Wie gewöhnlich hatte Isabella die bejahrten Vorhänge aus grünem Damast, der immer noch einen wunderbaren Schimmer aufwies, nicht zugezogen – unnötig bei ihrem ohnehin nicht einsehbaren Zimmer. Ihr bot sich von hier aus ein überwältigender Blick auf den Park mit seinem seltenen, teilweise monumentalen Baumbestand. Ganz besonders zogen der beinahe vierzig Meter hohe Tulpenbaum, der auf seinem meterhohen halbkugeligen Fundament aus Wurzelwerk Halt fand, sowie die Libanon-Zeder, beide die ältesten Veteranen im Park, immer wieder die Aufmerksamkeit der Besucher von der Seeseite auf sich.
Trotz des frühen, hellen Nachmittags warf die altmodische Stehlampe bereits ihr warmes, orangefarbenes Licht auf Isabellas Sofaplatz, wobei fast alles in diesem Gutshaus alt und somit altmodisch war. Von oben vernahm sie das vertraute Knarren der Holzböden. Man war aufgewacht, dachte sie, denn die Siesta war ein Ritual, dem sich alle Bewohner unterzogen – sofern sie nicht außer Haus arbeiteten. In den oberen Zimmern wohnten Elisa, sechzig Jahre alt, die als Hauswirtschafterin fungierte, und Paula, zweiundsechzig, die als Gärtnerin Thibault zur Hand ging und im Winter immer noch als Skilehrerin in Madonna di Campillo arbeitete. Sie als Angestellte des Hauses zu bezeichnen wäre so, als titulierte man die Hofdame der Queen ein Dienstmädchen. Sie lebten in der Villa seit dem legendären fünften April 1980, als Chiara entschieden hatte, dass erstens der Franzose Thibault der Mann ihres Lebens werden würde und zweitens die beiden Frauen, die das Schicksal bereits arg gebeutelt hatte, bei ihr das riesige Haus bewohnen durften. Chiara und die Großeltern kannten beide Frauen schon zwei Jahre, da sie stets im Winter nach Madonna reisten und bei Paula immer privaten Skiunterricht genossen hatten, während Elisa einen kleinen Andenkenladen betrieb. Paula hatte nach zweijähriger Ehe erfahren müssen, dass ihr Mann sie nicht nur vor der Ehe, sondern auch während dieser schamlos mehrmals betrogen hatte. Und Elisa hatte feststellen müssen, dass ihr Freund sich mitsamt ihren Einnahmen aus der Saison verdünnisiert hatte, und hatte sich von diesem seelischen und finanziellen Schock noch nicht erholt.
Nach dem Lawinenunglück wohnten sie also in Riva. Zwar bezogen Paula und Elisa ein Gehalt, doch war ihnen zudem auf Lebenszeit ein Wohnrecht zugestanden worden. Kost und Logis waren frei, versteht sich. Im Laufe der Jahrzehnte hatte sich dieser Entschluss Chiaras, die sich seit ihrer Geburt als willensstarke Persönlichkeit stets durchzusetzen im Stande zeigte, als eine wahrhaft göttliche Entscheidung herausgestellt, wie alle uneingeschränkt zustimmten. Allerdings musste man sagen, dass ihre Eltern damals die drei Freunde ohnehin mit offenen Armen aufgenommen hatten.
Oben unter dem Dach gab es neben den zwei Zimmern der Frauen, ihrem gemeinsamen Wohnzimmer und dem Bad noch ein Gästezimmer, das im Laufe der Jahre gern und oft genutzt worden war. Mittlerweile diente es jedoch als Abstellkammer, seitdem es durch das Dach bei Regen so stark tropfte, dass es zu Paulas und Elisas Arbeiten gehörte, die Eimer zu inspizieren und bei Bedarf zu leeren. Natürlich hatte die Reparatur des Daches höchste Priorität.
Ja, die Hauswirtschafterin und die Gärtnerin waren in der Tat nicht nur Freunde, sondern geliebte Familienmitglieder. Ihre Arbeit beinhaltete nicht nur die hauswirtschaftlichen Belange Elisas und gärtnerischen Aufgaben Paulas, sondern auch das Reparieren des Oldtimers, einen Peugeot von 1990.
Paula besaß umfassende Kenntnisse von eigentlich allem, befand Chiara, die diese Fähigkeiten außerordentlich schätzte, denn wie sie selbst offen bekannte, war sie zu nichts anderem nütze, als eine Tochter in die Welt zu setzen und ihren Mann bei Laune zu halten. Wogegen man nur halbherzig Einspruch einlegte. Es war Chiara, die in Fällen von Meinungsverschiedenheiten als sanfte Diplomatin auftrat, wobei diese Sanftheit über ihre Willensstärke hinwegtäuschte, und die zu allen Nachbarn einen freundschaftlichen Umgang pflegte, der jährlich in einem gemütlichen Weinfest gipfelte, wenn sich die Touristen vom Acker gemacht hatten. Da sie das Herz auf der Zunge trug, bestand auch kein Grund zu Neid, denn jeder wusste um den maroden Zustand des Hauses und um die Kosten, die eine Totalrenovierung mit sich brachte. Außerdem war jedem klar, dass Thibault zwar wunderschöne Bilder malte, er jedoch allein in den Sommermonaten das Geld fürs ganze Jahr verdienen musste, um mit der Familie den Winter zu überstehen, in dem die Gäste nur noch vereinzelt eintrafen.
Der Ostflügel war nicht nur wegen des Turms ein wenig eigenwillig verbaut. Isabellas Großmutter hatte zu ihrer Zeit nur das unterste Turmzimmer für sich beansprucht und auf eine Treppe hinauf zu den zwei anderen Räumen verzichtet, da sie nicht schwindelfrei war und somit die Zimmer nicht nutzen würde. Dieser Turm war an drei Wohneinheiten angebaut worden, an die Erdgeschosswohnung mit separatem Eingang und die weiteren zwei Etagen mit je einem Zimmer.
Bei dem Gästezimmer, das dringend für Familienbesuche benötigt wurde, war rasches Handeln vonnöten, denn mittlerweile war es selbst Familienmitgliedern nicht mehr zuzumuten, in diesem Zimmer der Gefahr einer Sturzflut ausgesetzt zu sein. Und obwohl Paula und Elisa nicht klagten, war zu vermuten, dass es auch bei ihnen ab und an hereinregnete. Mithin war das komplette Dach zu erneuern – eine kostspielige Angelegenheit.
Das Bad, das man im Sommer für Isabella hatte installieren lassen, war ein zauberhafter, trotz seiner Größe sehr feminin eingerichteter Raum. Mit seinem Kristalllüster, dessen Licht im Kupfer der Badewanne schimmerte – ihr einziger Luxus, dessen Preis sie ihren Eltern in Anbetracht der kostspieligen weiteren Renovierung verschwiegen hatte –, animierte es den Badenden zum Träumen. Mit seiner bequemen Liege, die unter dem Fenster zum Garten zum Ruhen einlud, war es wie gemacht, um bei der Musik aus dem modernen tragbaren Player, den Emanuele ihr beim letzten Weihnachtsfest geschenkt hatte, nach einem anstrengenden Tag zu entspannen. Außerdem stand hier im Trockenen – welch angenehmes Attribut – ein Kleiderschrank, in dem vier weitere Gäste hätten übernachten können und der nicht nur die Handtücher und die Bettwäsche aus Jahrzehnten beherbergte, sondern auch Isabellas »begehbare« Garderobe geworden war.
Neben ihrer Wohnung lagen die Räume von Chiara und Thibault – das Bad und ihr Schlafzimmer, in dem er bei schlechtem Wetter am Schreibtisch unter dem Fenster seine Miniaturen vom Gutshaus und dem Garten zu Papier brachte.
Der größte Luxus des Hauses war neben der Anschaffung eines supermodernen Herds der Internetanschluss, den Isabella durchgesetzt hatte – wenn auch unter Protest ihrer Eltern. Sie hatte sie mit Mühe dazu gebracht, einfache Handys zu benutzen. Smartphones lehnten sie kategorisch ab, ebenso wie Paula und Elisa. »Ich will doch nicht Probleme mit meiner Halswirbelsäule bekommen, wenn ich wie die anderen ständig mit gesenktem Blick meines Weges gehe«, hatte Thibault gemeint, worauf Chiara ihm heftig nickend zustimmte.
Dies waren also zwingend nötige Umbaumaßnahmen gewesen, die allerdings auch den Rest des Ersparten gekostet hatten. Für weitere bitter nötige Sanierungen, wie dem Dach, konnten sie nicht bis zur nächsten Sommersaison warten, wenn ihr Vater seine Bilder veräußerte. Es musste jetzt Geld ins Haus. Und zwar viel Geld, denn das Gutshaus – sie liebte es wie eine Mutter ihr Kind – verfiel still, allerdings mit Stil. Thibault und Chiara gaben sich alle Mühe, es für die Nachwelt zu erhalten. Wenn es auch in ihrer Familie keine Nachfahren mehr gab, weder durch Isabella noch möglicherweise durch ihren Cousin John, der, so sinnierte sie, es auch nie zu solchen bringen würde. Sie erinnerte sich daran, wie er in seinen zum Glück seltenen Ferienaufenthalten bei ihnen ihre kleine Freundin gequält hatte, die wegen einer Kinderlähmung leicht hinkte und bei den schnellen Spielen im Park nicht immer hatte mithalten können.
Von ihrem gemeinsamen Einkommen vermochten sie bisher auch gut als fleißige Selbstversorger zu leben. Dem Park zwackten sie eintausendfünfhundert mit einer stabilen Mauer umsäumte Quadratmeter Land für ihren Bauerngarten ab, dessen Ertrag den größten Teil ihrer Nahrungsmittel abdeckte. Diese Abtrennung schuf ein für das Wachstum außerordentlich förderliches