Sie zog ihre Sportsachen an, dann ging sie hinunter. Zum Haushalt gehörten außer ihr: Thibault, ihr Vater, und Chiara, ihre Mutter, sowie Paula und Elisa, die sich seit Jahrzehnten als helfende Hände in Haus und Garten nützlich machten.
Ein zarter Duft aus Kaffee und gebratenem Speck strömte ihr entgegen, doch als sie die Küchentür öffnete, merkte sie, dass alle ausgeflogen waren. Am Sonntag ging man in die Kirche, sie hatte nicht daran gedacht. Also frühstückte sie ohne Eile, dann schrieb sie einen Zettel, um ihrer Mutter Bescheid zu geben, dass sie erst nach Mittag zurück sein würde, sie möge ihr aber etwas Suppe übrig lassen. Sonntags kochte ihre Mutter zum Pranzo oft nur eine leichte Suppe. Dafür gab es am Abend zum Cena wie stets und nicht nur an Sonn- und Feiertagen ein Drei-Gänge-Menü, das ihr Vater heute zubereitete, damit Elisa den Sonntag frei hatte. Auch montags durfte Elisa sich nicht an den Herd stellen, dennoch musste niemand verhungern, denn sonntags wurde so reichlich gekocht, dass man von den Resten auch noch satt wurde.
Die Küche lag im äußersten Westflügel des Erdgeschosses, daneben gab es Speisezimmer, Wohnzimmer und Bibliothek, die man, wie alle anderen Räume auch, von einem schmalen Flur aus betrat, der sich in der gesamten Länge davor erstreckte. Im Westteil befand sich das große Gästezimmer mit integriertem Bad und eigenem Ausgang, welches früher Elena, Chiaras Schwester, mit ihrem amerikanischen Mann Lennard bewohnt hatte. Nach deren Tod wurde es von Elenas Stiefsohn John in Anspruch genommen.
Elena hatte Lennard bei einem Kurzbesuch in den USA kennengelernt und ihn ein Jahr darauf geheiratet. Ihre Besuche mit ihm waren die reine Freude gewesen, was man von Johns Erscheinen nicht behaupten konnte. Das obere Gästezimmer in Beschlag zu nehmen, davon hatte er zu Isabellas Erleichterung von vornherein Abstand genommen. Der Gedanke, er wäre ihr möglicherweise im Flur im Morgenmantel begegnet, verursachte ihr noch heute Brechreiz. Außerdem war ihm dadurch ein ungestörtes Kommen und Gehen gewährt, ein Privileg, das er in dem oberen Zimmer nicht genossen hätte.
Isabella stellte das Geschirr in den Geschirrspüler und räumte alles andere in den Kühlschrank. Dann lief sie, wieder guter Laune, hinaus.
Wie immer ging ein frischer Wind, einer der zahlreichen Gardasee-Winde, von denen es fünfzehn verschiedene gibt. Jeder von ihnen hat seine charakteristische Richtung, Tages- und Jahreszeit: So bläst Sover um Mitternacht aus dem Norden, Südwind Ander am Vormittag, die frische Ora pünktlich ab zwölf Uhr mittags und Vinezza, aus Venedig kommend, jagt feucht und kalt im Frühjahr über die empfindlichen jungen Pflanzen, ganz zu schweigen von den Herbststürmen, die man hier eigentlich nicht vermuten würde.
Noch blähte Sover die Segel, um später am Nachmittag der Brise Ora das Feld zu überlassen. Verlass auf diese Surf- und Segelwinde, so wusste Isabella, war allerdings nur hier im Norden, wo der Gardasee einem tief in die Berge eingeschnittenen Fjord glich. Dem östlich gelegenen Torbole hatten diese Winde einen starken Boom beschert und die Region in eine der beliebtesten Surf-Reviere Europas verwandelt. Surfen war allerdings nicht ihre Leidenschaft, Isabella liebte das Mountainbiken. Gut gelaunt holte sie ihr Mountainbike aus dem alten Schuppen, der, seit jeher großartig Remise genannt, mittlerweile auch kurz vor dem Zerfall stand und schon seit Längerem einem neuen Platz machen sollte. Aber alle außer Paula waren keine Heimwerker, und bisher hatte das Geld für einen Neubau noch nicht gereicht.
Die Luft war frisch, perfekt für eine ihrer liebsten Touren auf der alten Ponalestraße. Diese Tour bot für sie keine Schwierigkeiten und ließ das Herz höher schlagen auf jedem der fünfundzwanzig Kilometer, die es zu bewältigen galt.
Der in Richtung Limone verlaufende Radweg führte parallel an der Autostraße Gardesana Occidentale entlang und zweigte dann etwa zweihundertfünfzig Meter hinter dem Ortsschild von Riva kurz vor einem Tunnel in die alte Ponalestraße ab, die, 1851 fertiggestellt, mühsam aus den senkrechten Felswänden gefräst worden war. Sie verband seitdem das abgeschiedene Ledrotal mit Riva, und die Wanderer und Mountainbiker durften sie zehn Jahre nach ihrer Sperrung für den Autoverkehr und gleichzeitigem zähem Protest der Bevölkerung, seit ein paar Jahren wieder nutzen. Bei einem Gut teilte sich vor ihr die Straße, und schließlich erreichte Isabella die Erhebung Bocca Larici, den Höhepunkt der Radtour.
Ihre Lungen füllten sich wie immer an diesem Punkt mit neuer Lebenskraft. Isabellas Herz klopfte nicht nur vor Anstrengung, sondern vor allem auch vor Entzücken angesichts des überwältigenden Panoramas ringsum, den schroffen Bergen, den Hügeln in der Ferne und nicht zuletzt dem See zu ihren Füßen. Der See war in der Tat der blaueste in ganz Italien. Schlängelte sich bei Riva noch ein hellgrün und türkiser Streifen am Ufer entlang, das dann unerwartet steil in die Tiefe abfiel, so leuchtete der Gardasee hier in reinem Blau, durchsichtig bis weit hinunter und klar wie die Morgenluft. Aber so friedlich er heute auch schien, so war der lago vivo im Innern lebendig, dank des verzweigten Höhlen- und Röhrensystems, in dem das Wasser an den Uferbergen unheimlich aus dem See heraus- und wieder zurückströmte.
Wie schade, dass Emanuele jetzt nicht mit ihr gemeinsam diese Schönheit erlebte. Ohnehin kein Freund von Mountainbike-Touren, erwies er sich entgegen seinen Erzählungen zu Beginn ihres Kennenlernens im Laufe der Zeit als Sportmuffel. Dafür besaß er andere Qualitäten, urteilte sie liebevoll.
Welche?, hinterfragte ihre innere Stimme, wie so oft in der letzten Zeit. Nun ja, er war … nett, manchmal bezaubernd, auf jeden Fall anziehend. Man konnte sich auf ihn verlassen. Die interessanten Geschichten von seinen Reisen übers Mittelmeer und der manchmal arg verwöhnten Gästeschar hielten nicht nur sie stets aufs Neue gefangen. Das Einzige, das sie neben seinem Hochmut traurig stimmte, waren seine seltenen Aufenthalte in Riva. Aber dies brachte nun einmal sein Beruf als Kapitän auf einem noblen Kreuzfahrtschiff im Mittelmeer mit sich.
Nein, sie bereute nicht ihren unvermittelten Wunsch vor einigen Wochen, sich mit ihm zu verloben. Er hatte sie erhört, wie man an dem Ring mit seinem tiefblauen Aquamarin, eingefasst von kleinen Diamanten, erkennen konnte.
War es bloß eine Kurzschlusshandlung vor dem vierzigsten Geburtstag? Sie neigte nicht zum Brüten, aber der bevorstehende runde Geburtstag bedeutete doch einen gewissen Einschnitt.
Aber nein, beruhigte sie sich, es gab keinen Grund zur Torschlusspanik.
Als sie dreißig wurde, hatte sie keinerlei Gedanken ans Älterwerden verschwendet. Warum auch? Gegenwärtig schreckte sie auch die Vierzig nicht, im Gegenteil. Spätestens mit Vierzig besaßen die meisten, sogar Spätentwickler wie sie, endlich genügend Selbstbewusstsein, ihr wahres Ich zu zeigen und zu leben. Man gestattete sich Albernheiten, ohne rot zu werden, traute sich, ausgefallene, möglicherweise auf andere seltsam wirkende Kleidung anzulegen. Man genehmigte sich die Freiheit, den einen oder anderen Gedanken, der nicht unbedingt populär war, laut herauszuposaunen.
Sie kicherte. Tatsächlich war sie bereits jetzt mit neununddreißig ganz bei sich, kannte sich, respektierte sich. Nur manchmal wäre es schön, wenn ihr Freund öfter den Freundeskreis ersetzen und mit Begeisterung Ausflüge oder heitere Abende mit ihr verbringen würde. Und natürlich heiße Liebesnächte genießen. Aber damit musste sie leben.
Als Nächstes stand eine Veränderung an, die sie erfreute und gleichermaßen erregte: Sie war gezwungen, sich eine neue Arbeit zu suchen, nachdem der Autozulieferer, bei dem sie die letzten Jahre gearbeitet hatte, die Tore hatte schließen müssen. Aber da war sie unbesorgt. Sie sah sich als die vollkommene Assistentin und zwar eine, die sich in der digitalen Welt gut auskannte. Mit ihr wurde jeder IT-Mensch – beinahe – überflüssig. Mit dieser, okay, ein wenig hoch gegriffenen Aussage würde sie auf jeden Fall punkten, wenn sie ihrem zukünftigen Chef darlegte, dass er mit ihr in der glücklichen Lage wäre, sich die Ausgaben für eine solche Koryphäe zu sparen. Sie wusste auch nicht, wieso, aber die Arbeit mit Computern war ihr immer schon leichtgefallen. Außerdem verfügte sie über eine ausgesprochene Sprachbegabung. Dank ihres französischen Vaters Thibault sprach sie neben Italienisch auch perfekt Französisch, dazu natürlich Deutsch, Englisch und leidlich Spanisch. Ja, dachte sie selbstbewusst, sie war für alles gerüstet. Jetzt hieß es nur, die Augen offen zu halten und zuzugreifen, wenn sich die Gelegenheit bot.