»Ich habe einen Vorschlag zu machen«, sagte Denise freundlich. »Wollen Sie nicht drüben in Schoeneich unser Gast sein? Für einen Herrn ist der Aufenthalt im Kinderheim vielleicht ein bisschen ungewohnt. Mit meinem Mann werden Sie sich bestimmt gut verstehen.«
»Danke, Mrs von Schoenecker. Ich bleibe, wo es Ihnen am besten passt. Haben Sie denn noch ein Schloss?«
Denise wunderte sich über seine fast kindliche Frage und erklärte ihm die Zusammenhänge.
Glenn Cassels war sofort einverstanden. Denise allerdings hatte eigentlich in erster Linie den Wunsch, auch Alexander die Möglichkeit zu geben, sich ein umfassendes Urteil über den Amerikaner zu bilden.
Alle geschäftlichen Telefonate mit Frankfurt mussten auf den nächsten Tag verschoben werden, weil die Büros um diese Stunde schon geschlossen hatten.
Nick wurde beauftragt, Moira zu holen. Glenn Cassels erbot sich, den Jungen zu begleiten. Denn Moira war bei Roland Gerhardt im Malerhaus.
Gemeinsam machten sich die beiden auf den Weg, während Denise den Fremden vom Fenster her aufmerksam musterte, solange sie ihn sehen konnte.
Vielleicht ist mein Misstrauen nicht gerechtfertigt, hielt sie sich in Gedanken vor. Die Leute aus den Vereinigten Staaten sind anders als wir. Dass er vom Lande kommt und deshalb ein bisschen geschmacklos angezogen ist, sollte ich ihm nicht zum Vorwurf machen.
Zudem sagte ihr ihr Verstand, dass Glenn Cassels als der einzige Verwandte Moiras das Recht ohnehin auf seiner Seite hatte. Wer sollte sich des Kindes denn annehmen, wenn nicht er?
Vielleicht war es nur seine unbekümmerte und etwas forsche Art, die sie störte …
*
Nick erfuhr, dass der VW ein Leihwagen war, den Mr Cassels sich auf dem Flughafen verschafft hatte. Die Verständigung zwischen den beiden klappte gut. Es machte Nick Spaß, seine Sprachkenntnisse an den Mann zu bringen. Er erzählte allerlei von Moira und ihren Gänsen sowie von ihrer Freundschaft mit dem Maler Roland Gerhardt, der neuerdings recht oft in Sophienlust sei, um sich mit Carola Rennert, die der Amerikaner noch kennenlernen werde, über Malerei zu unterhalten.
»Wenn das Bild gut ist, werde ich es Mr Gerhardt abkaufen«. verkündete Glenn Cassels großspurig.
Nun erreichten sie das kleine Haus, vor dem die Gänse auf der Wiese weideten, während von Moira und ihrem Freund zunächst nichts zu sehen war.
Nick, der sich inzwischen hier auskannte, rief laut. Sofort zeigte sich Moiras vergnügtes Gesichtchen oben in der geöffneten Tür des Ateliers.
»Hallo, Nick.«
Wenig später waren die Besucher im Atelier, und Nick übernahm die Vorstellung. Glenn Cassels hielt sich nicht mit langen Vorreden auf, sondern sprach sofort eifrig auf Moira ein.
Roland und Nick hatten einige Mühe, sein rasches Englisch zu verstehen. Immerhin war den beiden klar, dass er dem Kind sehr direkt sagte, dass seine Eltern tot seien und dass er es deshalb mit auf seine Farm nehmen werde. Er sei Onkel Glenn.
Moira starrte den Amerikaner, den sie nie in ihrem Leben gesehen hatte, ängstlich an. Scheu drängte sie sich an Roland, zu dem sie unbegrenztes Vertrauen hegte.
»Na, verstehst du deine eigene Sprache nicht mehr?«, fragte Glenn Cassels unbekümmert.
»Wer ist der Onkel?«, fragte Moira auf deutsch.
Roland Gerhardt streichelte Moiras blondes Haar. Er hatte sich an die ständige Gesellschaft des kleinen Mädchens so sehr gewöhnt, dass ihn die Mitteilung des Fremden fast genauso bestürzte wie das Kind.
»Er kommt aus Amerika, Moira. Du bist auch von dort.«
»Ich bin von Sophienlust«, erklärte Moira mit größter Entschiedenheit.
Der Maler umging weitere Konflikte, indem er seine Gäste ins Wohnzimmer bat. Doch Glenn Cassels wollte zunächst das Bild von Moira anschauen. Es war ausgezeichnet gelungen. Roland setzte dem Besucher auf englisch auseinander, dass er die Absicht habe, auch andere Kinder aus dem Heim zu malen, vielleicht jedes mit einem Tier. Er hoffe, dass ihm die übrigen Bilder genauso gut gelingen würden wie dieses.
Dann kletterten alle die Leiter hinunter.
Roland Gerhardt bewirtete den Amerikaner mit einem Schnaps, die Kinder mit Saft. Die Unterhaltung wurde auf englisch geführt, weil Glenn Cassels nicht Deutsch verstand. Moira sprach allerdings hartnäckig ihr lustiges Deutsch, wobei sie sich bemühte, möglichst jedes englische Wort zu vermeiden. Ihre Zurückhaltung, ja, Abneigung gegen ihren Onkel war unverkennbar.
Als die Zeit zum Abendessen herannahte, mahnte Nick zum Aufbruch. Die Gänse wurden in ihren Stall gesperrt. Dann wanderten Glenn Cassels und die beiden Kinder zurück nach Sophienlust, wo Denise gerade Henrik in ihrem Wagen verstaute, um abzufahren.
»Kommen Sie gleich mit uns?«, forderte sie den Gast auf. »Ich habe in Schoeneich angerufen. Ihr Zimmer ist schon bereit. Mein Mann freut sich auf Sie.«
Glenn Cassels stimmte zu. Moira aber stürmte auf Denise zu und schlang die Ärmchen um sie. »Der Onkel will mich holen, Tante Isi. Ich mag stay here – bleiben – bitte, Tante Isi.« Ängstlich und zugleich voller Vertrauen in die Allmacht der geliebten Tante schauten die großen blauen Kinderaugen zu Denise auf.
»Wir werden sehen, Moira«, flüsterte Denise dem Kind ins Ohr, das seinerseits auch nur ganz leise gesprochen hatte, damit die anderen seine Worte nicht hatten hören können.
»I love you, Tante Isi.«
Das schlichte Bekenntnis kindlicher Liebe griff Dominiks Mutter ans Herz.
»Ja, mein Kleines, ich habe dich auch sehr lieb«, antwortete sie mit Innigkeit.
»Willst du hierbleiben oder kommst du mit uns nach Schoeneich?«, wandte sie sich an Nick, der sich angeregt mit dem Amerikaner unterhielt.
»Wenn Mr Cassels in Schoeneich wohnt, komme ich gern mit, Mutti.« Nick hatte in Sophienlust ein eigenes Zimmer, in dem er übernachten durfte. wenn er Lust dazu hatte. Dies war ein Sonderrecht, weil ihm Sophienlust gehörte und er sich trotz seines jugendlichen Alters schon für das Geschehen im Heim und auf dem Gut verantwortlich fühlte. Denise wollte, dass er in seine zukünftige Aufgabe hineinwuchs. Das geschah ganz unmerklich von Tag zu Tag mehr.
Glenn Cassels forderte den aufgeweckten Jungen, mit dem er sich fließend unterhalten konnte, auf, in seinem VW mitzufahren. Nick nahm den Vorschlag an. Moira aber schloss sich einer Gruppe von Kindern an, die eben mit schmutzigen Händen und Knien aus dem Park ins Haus stürmten, um sich fürs Essen zu säubern. Man merkte dem kleinen Mädchen an, dass es froh war, aus der unmittelbaren Nähe seines Onkels zu gelangen.
Denise betrachtete die Entwicklung der Dinge mit einiger Besorgnis. Wie sollte das enden? Moira hatte sich ohne Schwierigkeiten mit dem völlig veränderten Leben in Sophienlust abgefunden. Auch mit den netten Bauersleuten, die sie gepflegt hatten, war sie gut Freund gewesen. Warum sträubte sie sich gegen den Onkel, der ihre Sprache sprach, aus ihrem Land kam und zudem noch verwandt mit ihr war – wenn auch nur weitläufig
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