Im Studio der Akademie malte Daisy an diesem Morgen ein Kinderporträt, das ihr besonders gut gelang. Vielleicht, weil sie intensiv an Moira Cassels denken musste und von dem aufrichtigen Wunsch beseelt war, dem Kind eine gute Mutter zu werden – obwohl sie gegen Glenn Cassels eine gewisse Abneigung empfand.
Der Professor lobte die begabte Studentin und versprach, das Bild später öffentlich auszustellen. Außerdem bot er Daisy für das kommende Semester eine gut bezahlte Tätigkeit als Assistentin an der Akademie an.
Damit war Daisy McMiller mit einem Schlag aus den ärgsten finanziellen Nöten heraus. Sie schöpfte sogleich neuen Mut und begann wieder an ihre künstlerische Begabung zu glauben.
Warum ist mir das nicht vor vier Wochen passiert?, dachte sie, als sie die Akademie im Schwarm der anderen Studenten verließ. Jetzt ist es zu spät. Jetzt komme ich von Glenn nicht mehr los. Wenn er das Kind mitbringt, ist es meine Pflicht, für Moira zu sorgen! Wer weiß, was sonst noch passieren würde.
Aber wenn es schiefgehen sollte, ja…, dann werde ich versuchen, ihm seine tausend Dollar zurückzuzahlen, überlegte sie.
*
Nick stand auf Ausguckposten, denn für diesen Tag hatte sich Moiras Onkel angemeldet. Man hatte dem kleinen Mädchen, das auch nach Fertigstellung des Porträts mit den Gänsen manche Stunde bei seinem Freund Roland verbrachte, von den zu erwartenden Änderungen vorerst nichts gesagt, um es nicht unnötig zu beunruhigen.
Jetzt bog ein Wagen in den Gutshof ein. Nick rümpfte die Nase. Er hatte einen schnittigen amerikanischen Wagen erwartet. Doch es handelte sich nur um einen ganz normalen Volkswagen.
Der Ankömmling stieg aus und sah sich aufmerksam um. Beim Anblick des stolzen Herrenhauses nickte er ein paarmal anerkennend.
Nun gab der Junge seinen Beobachtungsposten auf und schlenderte auf den Besucher zu.
»Guten Tag«, grüßte er höflich. »Ich bin Dominik von Wellentin-Schoenecker.«
»Hallo«, antwortete Glenn in breitem Amerikanisch. »My name is Glenn Cassels.«
Nick kratzte sein bestes Schulenglisch zusammen und bat den Gast ins Haus. Seine Mutter warte schon auf ihn, berichtete er.
Denise begrüßte Glenn Cassels im Biedermeierzimmer, wo sie jeden Gast zu empfangen pflegte. Ein Imbiss wurde gebracht, und Nick musste sich zurückziehen, obwohl seine Mutter ihm ansah, dass er vor Neugier fast platzte.
Ob er Moira gleich mitnehmen könne?, fragte Glenn Cassels ohne viel Umschweife. Das sei das einfachste seiner Meinung nach.
Denise lächelte liebenswürdig. In ihrem tadellosen Englisch erwiderte sie: »Vom Konsulat wurden mir bisher keine Einzelheiten mitgeteilt. Besitzen Sie eine Ermächtigung, Moira mitzunehmen?«
Glenn hob die Schultern. »Wieso Ermächtigung? Ich bin der einzige noch lebende Verwandte des Kindes. Das habe ich in New York nachgewiesen.«
»Ich verstehe, dass es Ihnen umständlich erscheinen muss. Sicher lässt sich auch der formelle Teil mit Hilfe des Konsulats in Frankfurt schnell regeln. Doch für den Augenblick sind wir für Moira verantwortlich und deshalb auch nicht berechtigt, Ihnen das Kind zu übergeben.«
»Wie umständlich«, beklagte sich Glenn. »So viel Zeit habe ich eigentlich gar nicht.«
»Das tut mir leid«, beeilte sich Denise zu versichern. »Ich hoffe, dass man Ihnen in jeder Weise entgegenkommen wird. Uns war von Anfang an klar, dass wir Moira nicht für sehr lange behalten würden. Die Kleine hat sich erstaunlich schnell und gut bei uns eingelebt.«
Glenn schaute zum Fenster hinaus. »Bei mir wird sie es auch ländlich haben. Ich bewirtschafte eine Farm.«
Denise lachte. »Hoffentlich besitzen Sie auch Gänse!« Und dann erzählte sie ihm von den Tieren, die das kleine Mädchen von ihren freundlichen Rettern geschenkt erhalten hatte.
Glenn hörte zu. Allmählich wich die Unruhe von ihm. Er stimmte in Denises Lachen über Moira und die Gänse ein.
»Wenn ich’s mir recht überlege, so kommt es auf ein paar Tage wirklich nicht an, Mrs von Schoenecker.« Die Aussprache des Namens machte ihm einige Schwierigkeiten.
»Solange Sie hier sind, können Sie natürlich bei uns wohnen, Mr Cassels. Sophienlust ist ein Haus, in dem wir gern Gäste aufnehmen.«
»Danke.« Man konnte Glenn Cassels ansehen, dass es ihm in dieser Umgebung gefiel.
Denise erkundigte sich nach Moiras Eltern.
Glenn machte eine unbestimmte Bewegung mit der Hand. »Ach, wissen Sie, Mrs von Schoenecker, ich habe Ted nur als Jungen gesehen. Wir sind Vettern zweiten Grades. Seine Frau kannte ich nicht. Dass ein Kind da ist, habe ich erst vor Kurzem erfahren. Sonst hätte ich mich selbstverständlich sofort gemeldet. Das arme Ding steht jetzt ganz allein auf der Welt.«
»Zuerst sah es so aus, als gebe es gar keine Verwandten mehr.«
»Reiner Zufall, dass ich überhaupt davon erfahren habe. Ich las eine Notiz in der Zeitung. Ted Cassels war ja ziemlich bekannt.«
»Dass die Europareise des Paares so tragisch enden musste«, seufzte Denise.
»Immerhin lebt die Kleine«, warf Glenn ein. »Zuerst war drüben von der Nachlassverwaltung angenommen worden, dass Moira ebenfalls tödlich verunglückt sei.«
Denise nickte. »Ich weiß, da ist eine Verwechslung oder ein Fehler unterlaufen. Das Kind ist hier von hilfsbereiten Bauern aufgenommen und gesundgepflegt worden. Doch die guten Leute haben nicht daran gedacht, die Polizei zu verständigen.«
»Seltsam«, meinte Glenn. »Aber nun ist das Kind hier in guter Obhut, und wenn ich die Papiere habe, nehme ich Moira mit in die Staaten.«
»Unser Anwalt wird Ihnen behilflich sein, falls Sie es wünschen«, bot Denise an. »Aus Erfahrung weiß ich, dass die amerikanischen Behörden mindestens so genau und umständlich sind wie die deutschen.«
»Ich denke, ich komme allein zurecht«, bedankte sich Glenn. »Ich habe einen vorzüglichen Rechtsbeistand in New York.«
»Sie wollen Moira doch sicherlich kennenlernen?«, erkundigte sich Denise.
»Ja, das möchte ich schon. Ich mag kleine Kinder sehr gern – meine Braut auch.«
»Sie sind also noch nicht verheiratet?«
»Nein. Doch das lässt sich ganz rasch nachholen, sobald wir dann drüben sind.«
»Man wird Ihnen Moira vielleicht nicht geben, weil ein Kind in diesem Alter vor allem eine Mutter braucht. Jedenfalls hier in Deutschland wäre das so.«
Glenn wiegte den Kopf. »Es erschien mir am wichtigsten, mich sofort um die Kleine zu kümmern. Sie hat doch nur noch mich. Daisy und ich können sofort heiraten. Das ist kein Problem.«
Denise stellte noch eine ganze Menge Fragen und konnte sich eines unguten Gefühles nicht erwehren. Der auffällige Anzug des Besuchers störte sie ebenso wie sein grellbunter Schlips. Sein Benehmen wirkte wie das eines Schauspielers, der seine Rolle nicht ganz beherrschte.
Besonders nachdenklich stimmte Denise die Äußerung des Amerikaners, dass er Moira an Kindes statt annehmen wolle, damit sie seine Farm erben könne. Außerdem werde er auf diese Weise in die Lage versetzt, Moiras Vermögen in der rechten Weise zu verwalten. Er traue dem jetzigen Nachlassverwalter nicht über den Weg!
Damit war ein Stichwort gefallen, das Denise bisher absichtlich nicht erwähnt hatte. Dass das Vermögen eines Kindes zur Triebfeder für die seltsamsten Handlungen werden konnte, das hatte sie in ihrer Sophienluster Praxis schon mehr als einmal erlebt. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn Glenn Cassels nicht von Geld gesprochen hätte. Denn sie wusste inzwischen zuverlässig, dass die kleine Moira mit ihren sieben Gänsen Alleinerbin