Unwetter. Marijke Schermer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marijke Schermer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783311700432
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etwas hielten, wie sie es jetzt sahen. Sie waren draußen und ganz für sich. Sie waren die ersten Menschen. Die sommerliche Stadt war ihr Paradies. Sie beschrieben sich gegenseitig, wie sie wohnten. Er hatte eine Wohnung im sechsten Stock. Ein quadratisches Ding, sagte er, drei Zimmer, Küche, Bad um einen breiten Flur. Sie fragte sich, ob diese ganzen Ausweichmanöver bei der Balz womöglich bedeuteten, dass er eine feste Beziehung hatte. Wenn dem so war, dann machte das nichts. Es gab nur ein Ziel, wohin sie ihre Gefühle trieben. Wenn er noch anderweitig gebunden war, brauchte es nur ein kleines bisschen Zeit, um das zu klären, dann war es nur dieses kleine bisschen Zeit, das zwischen ihnen und diesem Ziel stand.

      Er erzählte, dass er dort früher mit einer Freundin zusammengewohnt hatte. Vergangenheitsform, aber er sagte nicht, wie lange dieses Früher schon her war. Sie hieß Mariette und lief Marathon, mehr erfuhr sie nicht. Sie weiß noch, wie sie auf seine Hände schaute, auf die langen, schlanken Finger, und dass sie an die Patienten dachte, die er damit anfasste. Sie weiß noch, wie sich seine Hände unter und in ihre Kleidung stahlen und er sie anfasste, gierig, fest und präzise. An jenem letzten Tag der Anfangszeit forderte sie ihn auf, die Augen zu schließen und sie so genau wie möglich zu beschreiben. Gruselig war das, und erregend. Es war, als zeichnete er sie, als fügte sich ihr Körper seiner Beschreibung und als würde sie allmählich zu der, die sie ihm nach war, als füllte sie die Konturen aus, die er ihr gab. Wie neu gemacht ging sie nach Hause. Als sie, beschwipst vom Wein und ganz erfüllt von ihrer Verliebtheit, vor ihrer Haustür stand, tauchte er plötzlich neben ihr auf, ihr Belästiger. Sie hatte eine Einzimmerwohnung im zweiten Stock und teilte den Hauseingang mit sechs anderen Bewohnern, die ständig wechselten, sie nahm an, dass er in einem der anderen Apartments wohnte. Nicht einen Moment war ihr in den Sinn gekommen, dass dieser fremde Mann ihretwegen da war. Sie grüßte ihn. Sie ließ ihn herein, sie selbst ließ ihn herein, er brauchte keine Tür aufzubrechen. Er brauchte nur ihre Barrieren niederzureißen.

      »Urplötzlich, von einem Tag auf den anderen, wollte sie mich nicht mehr sehen. Wir hatten auf einer Restaurantterrasse gegessen. Lasagne. Ich hatte Nachtdienst. Der fing um zehn Uhr an. Ich musste in die entgegengesetzte Richtung, und sie begleitete mich ein Stück, bevor wir uns verabschiedeten. Als ich sie am nächsten Morgen anrief, nahm sie nicht ab. Ich hinterließ eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter. Nachdem ich mich ausgeschlafen hatte, rief ich erneut bei ihr an. Wieder ohne Erfolg. Ich rief immer wieder an, vermutete, dass ich etwas vergessen hatte, dass sie etwas vorgehabt hatte, mit einem Freund oder einer Freundin, raus aus der Stadt, keine Ahnung. Ich wusste nicht mal, wo sie wohnte. Schon in welcher Straße, aber nicht die Hausnummer, wir hatten uns noch nie zu Hause besucht, wir hatten uns immer nur im Freien, an öffentlichen Orten getroffen. In der Nacht hatte ich wieder Dienst, und von dort aus versuchte ich erneut, sie zu erreichen. Inzwischen würde sie wohl wieder zu Hause sein, nahm ich an, doch sie nahm nicht ab. Ich hinterließ wieder eine Nachricht auf Band. Beunruhigt mittlerweile. Am nächsten Tag konnte ich nicht schlafen. Ich rief den Freund an, der mich zu der Party bei ihrem Bruder mitgenommen hatte. Über den bekam ich die Nummer von Jacob. Er wollte mir aber ihre Adresse nicht geben. Ich rief wieder und wieder bei ihr an, konnte aber keine Nachrichten mehr auf Band sprechen. Eine Woche später rief Jacob mich an. Er sagte, dass Emilia mich vorläufig nicht sehen wolle und ich nicht mehr anrufen solle. Sie müsse nachdenken«, sagte er.

      »Wow. Und wie lange hat das gedauert?«

      »Fast drei Monate. Und ich hatte nichts von ihr. Nicht mal ein Foto. Ich vergaß, wie sie aussah. Ich dachte schon, ich hätte sie geträumt.«

      4

      Emilia schließt die Hände um ihr Glas Tee und legt den Kopf auf den Tisch. Aus diesem schrägen Winkel schaut sie ihm zu. Er räumt die Küchenschränke aus und verstaut alles in Kartons und Kisten. Auf Knien zieht er die Töpfe hervor, Staubflocken wirbeln hinterher. Zwischen seinem Shirt und seinem Hosenbund ein Streifen weißer Rücken. Er hält ab und zu etwas hoch, woraufhin sie ja sagt oder manchmal auch nein. Bei einem Nein verschwindet es in der Mülltüte. Der Erfolg einer Ehe besteht darin, dass man die Haushaltsführung des anderen erträgt.

      Bruch ist ein schöner Mann. Sein relativ großer Kopf mit dem störrischen braunen Haar, die Augenbrauen, der weiche Mund, die sprühende Unabhängigkeit in seinem Blick, seine Haut, sein leicht gekerbtes Kinn und dessen Symmetrie, die Verbindung aus Stärke und Sanftheit, all das hat eine magnetische Wirkung. Erst wenn man ihn von hinten oder von der Seite sieht und der Blick nicht auf sein Gesicht gelenkt wird, fällt ins Auge, wie hager und schlaksig sein Körper ist. Hat er nichts an, sieht man, dass seine Hüftknochen und Knie spitz herausstehen und sein bleicher Rücken mit Leberflecken übersät ist.

      Sie hat ihn kennengelernt, als er schon vollendet war, als er den Eindruck erweckte, vollendet zu sein. Er war vierunddreißig. Er hatte einen weißen Kittel an, aus dessen Brusttasche eine Reihe Stifte hervorschaute. Internist, Immunologe, interessiert an Formen der Selbstzerstörung des Körpers. Er hatte einen Beruf, er hatte ein Leben, er hatte einen Backenbart, der nicht pubertär oder flippig war, sondern perfekt zu seinem Gesicht und seinem verhältnismäßig adretten Haarschnitt passte. Er hatte eine Eigentumswohnung. Sie stellt sich vor, sie hätte ihn schon gekannt, als er zehn war, bevor er diesen ausgeprägten Adamsapfel bekam, als sich sein Körper noch auf dem Weg zu der Größe befand, die in ihm angelegt war. Sie stellt sich vor, sie hätten als Kinder zusammen auf der Straße gespielt.

      »Unvorstellbar, nicht?«

      »Was?«

      »Douwe und Sophie.«

      »Hmmm.«

      »Nicht?«

      Er brummelt irgendwas vor sich hin.

      »Ich finde das unvorstellbar.«

      »Sieht aber doch ganz gut aus.«

      »Findest du?«

      »Du nicht?«

      »Meinst du nicht, dass das was von Vater-Mutter-Kind-Spielen hat?«

      »Ja, vielleicht.« Er richtet sich auf und schiebt die vollen Kartons Richtung Wintergarten.

      »Was meinst du mit: Sieht ganz gut aus?« Bruch macht sich jetzt an die Oberschränke, räumt sie aus und türmt alles auf der Anrichte auf. So ausgebreitet scheint es viel mehr zu sein, als die Schränke jemals fassen könnten. Geordnet nehmen die Sachen sehr viel weniger Platz ein.

      »Bruch? Was meinst du mit: Sieht ganz gut aus?«

      »Wie ich’s sage, sie scheinen glücklich zu sein, es sieht nicht so aus, als seien sie irgendwo stecken geblieben. Ich hab nicht genug Kartons.« Er geht nach oben.

      »Ich finde es kindisch!« Er kommt die Treppe herunter, bleibt auf der untersten Stufe stehen und sieht sie an, mit einem missbilligenden, fast tadelnden Blick. Sie wiederholt ihre Worte. Er stellt die Kartons ab. »Ich finde das unerwachsen! Mir ist das suspekt. Warum sollte man bei seinem Sandkastenfreund und im Dorf bleiben? Da nimmt man das Leben doch gar nicht ernst. Zumindest ist man überhaupt nicht daran interessiert, mal was zu erleben, oder?«

      »Wer sagt denn, dass sie nichts erleben? Vielleicht erleben sie mehr als wir. Vielleicht gerade sie. Was ist denn Glück?«

      »Stillstand etwa?«

      »Also weil du eine Reihe von Freunden hattest, bevor du mir begegnet bist, hast du etwas erlebt, hast das Leben ausgekostet, hast daraus gelernt, bist erwachsen geworden?« Sein Gesichtsausdruck ist unverhohlen spöttisch. Sie denkt an die Phase, in der sie mit ihrem Bruder zusammen Heroin geraucht hat. Als Freizeitdroge. Etwas, das man niemals machen würde, wenn man mit seinem Schulfreund verheiratet war. Erst als sie entdeckte, dass ihr Bruder auch ohne sie Drogen nahm, dass er süchtig war, dass sie nur als Alibi diente, als sein Schutzschild, wurde ihr klar, auf welchen Abgrund sie sich zubewegten. Sie verriet Jacob, schaltete ihren anderen Bruder Viktor ein und rief seinen Hausarzt an.

      »Und sie nicht.«

      »Was sie nicht?«

      »Sie sind nicht erwachsen, weil sie sich kennenlernten, als sie drei waren, ja?«

      »Ja.«

      »Du