Unwetter. Marijke Schermer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marijke Schermer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783311700432
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lilafarbene Decke zwischen die mannshohen Brennnesseln, zog Hose und Jacke aus und ließ sich in Unterwäsche zum Lesen nieder, gleichermaßen versteckt und gefangen. Das Rufen ihrer Mutter hörte sie irgendwo weit weg.

      Sie zupft an seinem Bademantel. Auf dem Steg stehen seine Slipper. Der Wind wirft lange Wellen mit spitzen Kämmen auf dem grauen Wasser auf. Das Wasser steht hoch. Am anderen Ufer stehen zwei Kühe und beäugen sie. Schwimmt er immer so lange? Schwimmt er zuerst stromaufwärts oder stromabwärts? Sie dreht sich um und geht zurück, vage beunruhigt, aber nicht gewillt, diese Empfindung zuzulassen. Das Haus steht klein und geduckt in der Mitte des Gartens. Unter einer großen Plane auf der einen Seite liegen Baustoffe, Holzbalken und eine Aluleiter. Die Küche, der Ausbau des Dachbodens, schließlich und endlich werden sie das doch alles machen.

      Drinnen ist alles beim Alten, ihr Gehen und Kommen sind unbemerkt geblieben. Osip schläft, Leo spielt, den Apfel hat er nicht angerührt. Emilia steht eine Zeitlang regungslos in der Küche. Sie muss etwas gegen das Gefühl tun, das sie erfasst hat. Sie muss zusehen, dass sie sich wieder den normalen, alltäglichen Dingen zuwendet und vergisst, was sie sich zu vergessen vorgenommen hatte.

      Unwillkürlich entfährt ihr ein Schrei, als die Türklingel die Stille durchbricht. Wer ist das? Am Sonntagmorgen. Um halb elf. Jemand, der sagt, dass Bruch ertrunken ist? Leo schaut zu ihr herüber. Als Emilia die Hand auf die Klinke legt, um die Tür zum Flur zu öffnen, wird hinter ihr die Terrassentür aufgeschoben. Sie erschrickt erneut. Dreht sich langsam um. Bruch steht mit nassen Haaren und vor Kälte fleckigem Gesicht im Türrahmen. Sie starrt ihn an. Er macht einen Klimmzug am Türsturz.

      Es klingelt noch einmal.

      »Erwartest du jemanden?«, fragt Emilia.

      »Sophie und Douwe, oder nicht? Jetzt schon?« Er schaut auf die Uhr.

      »Scheiße. Vergessen.« Sophie ist eine Kollegin von Bruch. Sie und ihr Mann Douwe haben versprochen, beim Abriss des Schuppens hinten im Garten zu helfen.

      »Man darf nicht Scheiße sagen«, sagt Leo. »Ich mach auf!«

      »Okay. Sag, dass wir gleich kommen.« Und in einem plötzlichen Energieschub schießen Bruch und sie die Treppe hinauf, während Leo zur Haustür läuft. Bruch geht ins Badezimmer und dreht die Dusche auf. Sie geht ins Schlafzimmer. Als sie vor dem Kleiderschrank steht, tritt Bruch hinter sie, fasst sie um die Taille und küsst ihren Nacken. Er schiebt die Hand unter ihr T-Shirt auf ihre Brust. Die Hand ist vom Flusswasser kalt und steif. Emilia stöhnt. »Du stöhnst«, flüstert er ihr ins Ohr. Dann lässt er sie los und verschwindet unter die Dusche. Sie zieht sich langsam an. Im Badezimmer kämmt sie sich die Haare und steckt sie hoch, während der Spiegel beschlägt. Dann geht sie die Treppe hinunter und holt auf den letzten Stufen tief Luft, als wollte sie unter Wasser tauchen.

      »Wie seid ihr euch eigentlich begegnet?« Sie stellt die Frage, weil sie sich wünscht, dass man ihr die Gegenfrage stellt, dass man ihre Geschichte hören will.

      »Gar nicht.«

      »Wir sind uns nicht begegnet.«

      »Ich kann mich nicht erinnern, dass Sophie je nicht da war.«

      »Seine Schwester hat mit meiner Schwester gespielt.«

      »Wir gingen in dieselbe Schule.«

      »Ich eine Klasse unter ihm.«

      »Wir haben zusammen schwimmen gelernt.«

      »Wir spielten draußen mit allen anderen gleichaltrigen Kindern aus dem Dorf.«

      »Das waren so etwa zehn, zwölf.«

      »Seine Mutter nähte Kleider für meine Puppe.«

      »Wir haben uns zum ersten Mal geküsst, als wir fünfzehn oder sechzehn waren, glaube ich.«

      »Ja, so in etwa.«

      »Aber da waren wir schon zwei Jahre zusammen.«

      »Als wir studierten, ich in Leiden, er in Delft, haben wir uns mal für ein Dreivierteljahr getrennt.«

      »Hat aber nichts gebracht. Wir haben uns vermisst.«

      »Wir fühlten uns amputiert.«

      »Ein kleiner Abstecher, um endgültig festzustellen, dass es nichts zu suchen gab.«

      »Wir hatten schon alles gefunden.« Wie um ihre Worte noch zu illustrieren, pflückte sie während dieses Duetts Gras von seiner Hose, und er hielt die Hand auf, um die Grashalme entgegenzunehmen und auf den Tisch zu legen. Als wären seine Beine auch ihre Beine. Ihre Hände waren genauso aufeinander eingespielt wie die Rechte und die Linke ein und derselben Person. Ob diese Erprobung eines Lebens ohneeinander, eines Lebens mit anderen, wohl primär sexueller Natur gewesen war, oder ging es dabei auch noch um etwas anderes? Ist das Intimleben von Jugendlieben tiefer und intensiver oder gerade nicht, weil es da kein Geheimnis gibt, keine unbekannte Vergangenheit, keine Kluft, die überbrückt werden muss? Worin liegt eigentlich das Geheimnis? Darin, dass der andere ein Leben hatte, das ihn außerhalb deiner Reichweite geformt hat?

      »Und jetzt wohnen wir neben dem Haus, in dem Douwe aufgewachsen ist.«

      »In der Straße, in der ihr früher Räuber und Gendarm gespielt habt?«

      »Genau.«

      »Und eure Kinder?«

      »Vierzehn, fünfzehn und siebzehn.«

      »Und die haben auch in dieser Straße Räuber und Gendarm gespielt.«

      »Oder vielleicht auch was anderes als Räuber und Gendarm.«

      Bruch gießt Wein in die Gläser und pflückt nun auch Grashalme von seiner Kleidung. Die Entwicklung eines Kindes zu einem Mann oder zu einer Frau von vierzig kann nicht ohne Um- und Irrwege verlaufen. Oder doch? Ist die Voraussetzung für lebenslange Liebe ein offener Blick? Oder ein stabiler Charakter? Oder eine Art effektiven Desinteresses?

      »Und ihr?« Nun führen Bruch und sie ihr kleines Theaterstück auf. Erzählen die Geschichte, die sie, wie jedes Paar, nicht zum ersten Mal und mit eingeschliffenen Formulierungen auftischen. Die gemeinsame Version ihrer Geschichte. Die Geschichte, die eigentlich nichts erzählt. Die Geschichte, welche die Sicht auf den Abgrund verstellt. Emilia trinkt einen Schluck von ihrem Wein. Sophie, Douwe und Bruch haben den ganzen Nachmittag gearbeitet. Sie selbst ist im Haus geblieben und hat versucht, ganz für die Kinder da zu sein. Sie ist mit ihnen in die Badewanne gegangen, sie hat auf dem Dachboden gelesen, während die beiden dort spielten, sie hat gekocht, während hysterische Zeichentrickstimmen durchs Haus schallten. Sie hat gegen die Schläfrigkeit, gegen die lähmende Langeweile dieses Tages angekämpft. Die drei da sehen gesund und aufgeräumt aus. Sie haben Arbeitsklamotten an und Staub in den Haaren. Sie haben Appetit. Sie haben heute etwas zustande gebracht, und wenn es nur ein Haufen Schutt auf einem Anhänger ist.

      »Auf einer Party meines Bruders.«

      »Aber daran erinnert sie sich nicht.« Gelächter. Immer.

      »Beim zweiten Mal, für mich also beim ersten Mal, im Krankenhaus. Ich habe einen Nachbarn hingebracht, der angefahren worden war. Bruch arbeitete dort. Wir begegneten uns zufällig in der Eingangshalle. Kamen ins Gespräch. Gingen in seiner Mittagspause im Park spazieren.«

      »Und du warst?«

      »Dreißig.«

      »Vierunddreißig.«

      »Wir trafen uns jeden Tag, aber noch nicht bei uns zu Hause. Wir liefen durch die Stadt, hockten in Kneipen und Straßencafés.«

      »Es war ein warmer Sommer.«

      »Wir lagen in Parks auf dem Rasen. Wir fuhren mit irgendeiner Straßenbahn bis zur Endhaltestelle und liefen zu Fuß zurück.«

      »Wir knutschten an Straßenecken und in Kneipen, und wir liefen und liefen und redeten über alles Mögliche, nichts Großartiges.« Das stimmte. Damals erzählten sie einander noch fast nichts aus ihrem Leben. Sie waren über dreißig, da hatte sich Stoff von einem halben Leben angesammelt. Aber sie lebten nur im Jetzt,