Kinder des Zufalls. Astrid Rosenfeld. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Astrid Rosenfeld
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783311700012
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lehnte sie ab.

      Während sie aßen und tranken, redete Donald ohne Unterlass. Er erzählte von Motoren und von einem anderen Kollegen, der seinen Bruder erschossen hatte. Er gab ein paar Witze zum Besten, über die er selbst am lautesten lachte. Berichtete, dass der Fernseher kaputt sei und dass er mit dem Rauchen aufgehört habe. Beinahe jedenfalls. Nur noch ein halbes Päckchen am Tag. Zwischendurch stellte er Fragen: Was Collins Job mache? Ob sie verlobt seien? Wie ihre Zukunftspläne aussähen? Sie hätten doch welche, oder? Die Antworten waren vage und knapp. Das schien ihn nicht zu stören. Er redete und fragte.

      »Es tut mir leid. Ich bin schrecklich müde«, sagte Charlotte nach dem dritten Bier. Donald nahm es mit einem traurigen Nicken hin.

      Collins Kinderzimmer war unverändert, aber nicht aus nostalgischen Gründen. Donald besaß nichts, was er dort hätte unterbringen wollen. Er brauchte kein Büro. Kein Gästezimmer. Er hatte keine Freunde oder Verwandten. Er hatte kein Hobby, das nach einem Werkraum verlangte.

      Collin gab Charlotte ein Handtuch, zeigte ihr das Bad. Als sie zurückkam, in ihrem dunkelroten Negligé, saß er auf dem Fensterbrett. Ein Bein in der Freiheit.

      »Es ist kalt«, sagte Charlotte.

      »Alte Gewohnheit.« Er schloss das Fenster.

      Eng aneinandergeschmiegt, lagen sie in dem schmalen Bett. Der Mezcal und die Aufregung der letzten Stunden versetzten Collin in einen tiefen Schlaf. Charlotte lag wach. Das Bier drückte ihr auf die Blase. Sie wartete, bis sie es nicht mehr aushalten konnte. Im Dunklen schlich sie ins Badezimmer. Knipste das Licht an. Sie pinkelte. Betätigte die Spülung. Charlotte betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. Sie sah ihrer Mutter kein bisschen ähnlich. Und das ist gut so, dachte sie. Gerade als sie ihr Spiegelbild küssen wollte, öffnete sich die Tür. Agnieszka. »Schhh«, machte sie, legte ihre Finger auf den faltenumrahmten Mund. »Schhh!«

      Charlotte nickte.

      In der Hand hielt die Alte eine Fotografie.

      »Ich Pole. Du Pole«, sagte sie leise und zeigte Charlotte das Bild. Schwarz-Weiß. Leicht verblasst. Eine junge Frau an Deck eines Schiffes. Lachend. Entschlossenheit in ihrem Blick.

      »Ich«, sagte die Alte.

      »Du?«, fragte Charlotte und betrachtete die Fotografie genauer. Sie konnte nicht glauben, wie hübsch diese runzelige Frau gewesen war.

      »Ich«, bestätigte Agnieszka.

      »Wir sind beide auf einem Schiff gekommen. Aber ich bin nicht aus Polen«, sagte Charlotte.

      »Nein?«, fragte Agnieszka.

      »Nein. Aber ich bin auf einem Schiff gekommen.« Charlotte betonte jedes Wort.

      »Ja«, sagte die Alte. »Da!« Sie gab Charlotte das Bild.

      Die beiden Frauen sahen sich an.

      Einen Augenblick lang schien ein unsichtbarer Faden sie zu verbinden. Gesponnen aus den Träumen und Tränen, den Ängsten und Hoffnungen all ihrer Schwestern, die vor ihnen ein Schiff bestiegen hatten, die nach ihnen an Deck gehen würden.

      5 Siebzehn Knochen

      Collin kauerte auf einer eisernen Pritsche. Die Tür war geschlossen. Abgesperrt. Von außen.

      Er dachte an Charlotte, die irgendwo da draußen versuchte, einen Anwalt aufzutreiben. Sie würde es schaffen. Bald würde er wieder frei sein. Das war nicht das Ende ihrer Reise.

      Eine Reise? Das Leben? Es hatte am Morgen nach ihrer Flucht begonnen.

      Donald war bereits in der Werkstatt, als Charlotte und Collin aufwachten. Die verrückte Polin schlief noch.

      In der Spüle leere Bierflaschen und schmutziges Geschirr. In der Luft der Geruch von Chili. Sie tranken Kaffee. Lächelnd hielten sie sich an ihren Tassen fest, warteten darauf, dass der andere etwas sagte.

      »Und jetzt?«, fragte Charlotte. Genau das hatte Collin auch fragen wollen. Nun musste er antworten, sonst würde es nicht weitergehen.

      »Wir sollten los«, sagte er. ›Los‹ klang gut.

      Der Vergnügungspark The Nu Pike lag nicht weit von dem hellblauen Haus entfernt. Ein Plan musste geboren werden. Ein Kind, gemacht aus gestohlenem Geld, einem taubengrauen Station Wagon und, ja, aus Liebe. Ein solches Wesen konnte nicht an einem Küchentisch zur Welt kommen. Der Vergnügungspark mit seinen Achterbahnen, Zerrspiegeln und Snow Cones schien Collin der einzig angemessene Ort.

      Das Karussell drehte sich im Kreis.

      »Wir fahren einfach. Es wird sich schon alles finden«, rief Charlotte lachend. Auch Collin lachte und gab dem hölzernen Pferd die Sporen.

      Sie fuhren die Küste entlang, von Süden nach Norden ins Landesinnere und dann von Norden nach Süden. Zurück zur Küste. Im Kreis. Die Grenzen Kaliforniens überquerten sie nicht. Collin war noch nie woanders gewesen. In Kalifornien fühlte er sich sicher.

      Sie hatten Mammutbäume berührt und sich im Tal des Todes geliebt. Sie hatten Austern in San Francisco gegessen und Muscheln in San Diego gesammelt. Sie hatten den Big Bear Lake durchschwommen und die White Mountains gesehen. Bald würden in Stanislaus County die Mandelbäume blühen.

      Es war Freitag, der 11. Februar 1966. Das Cover des Life Magazine zeigte zwei verwundete Soldaten. Der Kopf des einen bandagiert. Aufrecht sitzt er da. Das rechte Auge zum Himmel gerichtet. In seinem Schoß der bandagierte Kopf des anderen, der einen Becher oder eine Büchse in der Hand hält. Etwas Metallenes, etwas Blechernes.

      Collin legte die Zeitschrift zu den zwei Colaflaschen und der Keksschachtel auf den Tresen, bezahlte und ging zum Auto.

      »Schau mal«, sagte er, als er auf dem Fahrersitz Platz genommen hatte. »Sieht der nicht aus wie Bob?«

      »Wer ist Bob?«, fragte Charlotte und warf einen flüchtigen Blick auf das Cover.

      »Bob, der Marine. Die Nacht, in der wir uns kennengelernt haben.«

      Charlotte öffnete die Kekse. »Ach, der«, sagte sie und schob sich einen Schokoladencookie in den Mund. »Weiß nicht. Kann sein, kann aber auch nicht sein.«

      »Er sieht genauso aus«, sagte Collin bestimmt, dann stutzte er. »Aber das sind keine Marines. Er war doch ein Marine?«

      »Was?«, fragte Charlotte.

      »Bob war ein Marine, das hier sind Army-Soldaten. Die Uniform«, erklärte Collin.

      »Dann ist er es eben nicht.«

      »Aber die Ähnlichkeit ist so …«

      »Es gibt Millionen Bobs. Können wir jetzt los?«

      Normalerweise hätte Collin sofort den Wagen gestartet. Er fürchtete Charlottes Ungeduld. Nie zu lange bleiben, nicht zu viele Fragen stellen. Doch das Bild ließ ihn nicht los.

      »Ist das ein Becher?«, fragte er und strich mit den Fingern über das Papier. Charlotte riss ihm die Zeitschrift aus den Händen, betrachtete die Abbildung genauer.

      »Was der eine da in der Hand hält … Ist das ein Becher?«, wiederholte Collin seine Frage.

      »Sieht aus wie ein Becher«, sagte sie und warf das Heft auf den Rücksitz. »Können wir jetzt?«

      Collin startete den Wagen.

      In Ceres, benannt nach der römischen Göttin des Ackerbaus, der Fruchtbarkeit und der Ehe, nahmen sie ein Zimmer in einem Motel. Einstöckig, beige gestrichen, ein leerer Pool.

      Collin trug das Gepäck – Charlottes kleinen Koffer und seine schwarze Plastiktasche, die sie samt Inhalt noch in Long Beach gekauft hatten – ins Zimmer Nummer 19. Es roch nach Mottenkugeln.

      Die Stadt gab nicht viel her. Sie aßen Burger in einem schmuddeligen Restaurant und fuhren mit brennenden Mägen zurück zum Motel.

      Eine Laterne und die Neonreklame vor dem Gebäude tauchten alles in ein grellgelbes Licht. Sie saßen am Rand