Kinder des Zufalls. Astrid Rosenfeld. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Astrid Rosenfeld
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783311700012
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einer schnellen Bewegung befreite sich Charlotte aus seinem Griff. »Dann gute Nacht«, sagte sie. »Ich will nicht länger stören.«

      Ihr Herz schlug schnell. So schnell. Sie lief in die Garage, nahm ihren kleinen Koffer. Viel Zeit würde ihr nicht bleiben. Bald würde Ozzy bemerken, was ihre streichelnden Hände getan hatten.

      Sie rannte den Hollywood Boulevard ostwärts.

      Straßen, fremd und vertraut. »Verweile nicht!«, rief der Asphalt. Hier darf man sich nicht ausruhen, sonst bleibt man für immer sitzen. Wie die alte Frau dort an der Ecke mit dem schmutzigen Gesicht und den zwei fadenscheinigen Decken. Niemand würde sie retten, und das bisschen Stoff würde sie nicht warmhalten.

      Mir kann nichts passieren, dachte Charlotte, mir nicht.

      Schneller bewegten sich ihre Beine, schneller schlug ihr Herz.

      Als Charlotte die Lobby betrat, lief Collin ihr entgegen. Er sah blass aus. Nervös. »Was hast du getan? Was ist passiert?« Seine Hände wussten nicht wohin. Fuchtelten herum, streiften ihre Schultern, ihr Haar.

      »Er war schon hier?«, fragte sie in ruhigem Ton und nahm Collins Hände, hielt sie fest.

      »Er sagt, er wird dich umbringen. Er … er sucht nach dir. Was hast du getan?«

      Sie lächelte. »Wir müssen los.«

      »Ich kann nicht einfach weg.«

      »Und ob du kannst.«

      Als sie das Hotel verließen, blickte Collin sich noch einmal um. »Hoffentlich springt niemand aus dem Fenster«, sagte er.

      Charlotte ließ seine Hand erst los, als sie vor dem Station Wagon standen.

      »Wohin?«, fragte er.

      »Fort«, sagte sie.

      Überfordert von den Möglichkeiten, entschied er sich für Zurück. Süden. Long Beach.

      Charlotte erzählte ihm, was geschehen war.

      »Irgendwas hat Ozzy verkauft, irgendwas versteckt er in der Garage. Leichen vielleicht.«

      »Das hätten wir doch bemerkt«, sagte Collin.

      »Ach ja und wie?«

      »Leichen stinken. Und wer bezahlt schon Geld dafür? Und …«

      »Dann etwas anderes, etwas Verbotenes. Deshalb wollte er, dass ich verschwinde. Deshalb hat er dir den Job als Nachtportier besorgt. Damit du ihm nicht in die Quere kommst.«

      »Warum hat er mich dann überhaupt in der Garage wohnen lassen?«

      »Falls … falls er erwischt wird von der Polizei oder … Na ja, dann kann er sagen: Gehört mir nicht, muss Collin gehören. Der wohnt schließlich hier.«

      »Aber was denn?«

      »Was immer er verkauft hat.«

      »Das klingt verrückt«, sagte Collin.

      Seufzend warf Charlotte ein dickes Bündel Scheine in seinen Schoss.

      »Wir können machen, was wir wollen«, sagte sie. »Niemand sollte in einem Hotel arbeiten, in dem Menschen aus dem Fester springen.«

      Collin blickte kurz auf das Geldbündel. »Wie viel ist das?«

      »Hab nicht gezählt, aber schau doch, wie dick es ist. Alles Hunderter.«

      »Hunderter«, wiederholte er tonlos.

      »Freust du dich nicht? Also ich freu mich.«

      Es war nicht das Geld selbst. Als junge Frau brauchte Charlotte keine teuren Kleider, kein luxuriös eingerichtetes Haus. Es war die Art und Weise, wie sie das Geld beschafft hatte, die sie berauschte.

      »Was ist, wenn Ozzy uns anzeigt?«, fragte Collin.

      »Wird er nicht.«

      »Warum?«

      »Du kapierst es nicht. Was immer Ozzy da verkauft hat. Es ist etwas Verbotenes. Er ist kriminell. Vielleicht sogar ein Mörder.« Sie lachte. »Ich dachte, du würdest dich freuen. Und jetzt verdirbst du alles.« Sie legte ihre Hand auf sein Knie. Die Wärme tat ihm gut.

      Er kannte Charlotte nun seit einigen Wochen, wusste, wie sich ihre Haut anfühlte, ihr nackter Körper, wenn er neben ihr lag. Manche Nachmittage hatten sie am Meer verbracht. Neun Mal hatten sie My Fair Lady im Kino gesehen. Charlotte hatte den Film ausgesucht.

      An seinen freien Abenden waren sie durch die Bars und Clubs am Sunset Boulevard gezogen. Obwohl Charlotte sich auf der Tanzfläche im Rhythmus der anderen bewegte, ging sie nie in der Menge unter.

      Charlotte ließ sich nicht fassen. Auch die Geschichten, die sie Collin über ihr altes Leben in der alten Welt erzählt hatte, machten sie nicht greifbarer. Eine Stadt namens Heidelberg, Helga, die Haushälterin, der amerikanische Offizier. Ein Japaner, der wunderschön Flöte spielen konnte. Sie war auf einem Schiff gekommen, und jetzt saß sie neben ihm. Die Furcht, sie könnte einfach verschwinden, verließ Collin nicht.

      »Versuch doch wenigstens, dich ein bisschen zu freuen«, sagte sie. Ihre Hand ruhte noch immer auf seinem Knie.

      Er nickte. »Ja, ich freue mich«, sagte er. Dann lauter und enthusiastischer: »Ich freue mich!«

      Wenig später erreichten sie das Haus seiner Kindheit. Die Wohnung, in der sein Vater und die Großmutter lebten.

      »Wo sind wir?«, fragte Charlotte, als Collin vor dem Gebäude parkte. Obwohl Long Beach weniger als eine Autostunde von Los Angeles entfernt lag, hatte Collin seinen Vater und die Großmutter nur selten besucht. Jahre waren vergangen. Das letzte Mal war das Haus noch weiß gewesen, jetzt war es hellblau.

      Fast Mitternacht. Die Haustür stand offen. Dritte Etage. Collin hoffte, dass der Vater zu Hause sein würde, denn die verrückte Polin würde nicht – konnte nicht – öffnen.

      »Wir bleiben eine Nacht. Morgen überlegen wir weiter«, sagte er zu Charlotte. »Hier kann uns keiner klauen.«

      Er klopfte. Die Klingel hatte noch nie funktioniert.

      »Wer da?«, rief Donald Miroslaw Goodwin durch die verschlossene Tür.

      »Ich bin’s.«

      Die Tür ging auf.

      »Collin«, sagte Donald. »Du …? Und wer …?«

      »Das ist Charlotte.«

      Donald schüttelte ihr die Hand. »Charlotte. Sehr schön. Sehr schön«, sagte er und verbeugte sich, ohne ihre Hand loszulassen.

      »Hallo«, sagte Charlotte und löste ihre Hand aus seinem Griff.

      »Können wir heute Nacht hier schlafen?«, fragte Collin.

      »Selbstverständlich. Kommt rein. Kommt rein.«

      Die Wohnung roch nach Männerschweiß und Chili.

      Agnieszka stand im Wohnzimmer. In ihrem bodenlangen Nachthemd und mit den weit aufgerissenen Augen sah sie aus wie die Insassin einer Irrenanstalt eines längst vergangenen Jahrhunderts.

      »Geh ins Bett«, sagte Donald.

      »Du Pole«, sagte sie und zeigte auf Charlotte. »Du Pole.«

      »Ich?«, fragte Charlotte.

      »Du Pole. Ich Pole.«

      Charlotte lächelte. »Nein. Ich bin keine Polin.«

      »Du Pole. Ich Pole«, wiederholte die Alte. »Du Pole. Ich Pole.«

      »Das reicht«, sagte Donald schließlich. »Geh ins Bett. Sofort.«

      Agnieszka schnaufte verächtlich und ging in ihr Zimmer.

      »Sie ist halbverrückt«, sagte Donald an Charlotte gewandt. »Leider.«

      Donald bot alles auf, was der bescheidene Haushalt hergab. Ein paar Flaschen Bier. Ein Glas Mezcal,