Lichter als der Tag. Mirko Bonné. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mirko Bonné
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783731761198
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es, aber die waren allesamt tot, geköpft, zerschnitten, avocadogleich halb ausgehöhlt und verspeist von den Wespen. Wäre sie so groß wie ein Bussard, hatte Merz in einem seiner Hautflügler-Artikel geschrieben, die Sächsische Wespe könnte mit ihren Zangen ein Fahrrad in Stücke reißen. Die sich hierher verirrt hatten, wirkten abgekämpft und entkräftet. Schon seit Stunden suchten sie nach dem Ausweg aus der Zuckerhölle.

      »Keinen klaren Gedanken kann man fassen bei so einer Gluthitze«, sagte er in der Hoffnung, damit sein Zaudern zu entschuldigen. »Oder kommen viele Leute zu Ihnen und kaufen frisch und munter ein Graubrot?«

      Der erleichterten Verkäuferin huschte der Anflug eines Lächelns übers Gesicht. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn, als wäre das eine Antwort.

      Entweder sie wusste keine oder wollte keine geben.

      »Geben Sie mir … eine Rosinenschnecke bitte.«

      Die Feldwespe ernährte ihre Larven nicht mit Fliegenfleisch wie die Hornissen und die meisten anderen Wespenarten, sie verfütterte ausschließlich Bienenhonig.

      Er zahlte und bedankte sich. Doch anstatt zu gehen, blieb er vor dem Tresen stehen und blickte die Verkäuferin teilnahmslos an.

      Sie hatte eingefallene Wangen. Was dachte sie? Hau ab, weg, mach, dass du wegkommst?

      Nichts fürchteten Honigbienen mehr als Honig witternde Wespen.

      Er fragte die junge Frau, wie weit es zu Fuß bis zum Alsterufer sei.

      Sie schüttelte den Kopf und blickte ihn entgeistert an.

      Aus dem Hinterzimmer, wo früher vielleicht die Backstube gewesen war und ein Bäcker ab drei Uhr in der Früh backte, Brötchen und Brot, rief ihre ältere Kollegin, die dort unvermindert mit dem Besen herumrumorte: »Am Kreisel rechts runter, dann sieht man schon das Wasser – wenn noch welches da ist!«

      Sie lachte.

      Und die Auszubildende kicherte.

      »Heuschrecke«, sagte Merz zwar leise, aber vernehmlich, und riss dabei die Augen so weit auf, dass sie ihn fassungslos anstarrte. Wieder draußen in der Hitze, sah er sie durch das Schaufenster, in dem der Zucker zerfloss; nach Feierabend schaufelte sie ihn mit einer angewiderten Grimasse in den Müll. Arme, verängstigte Gebäckheuschrecke.

      Im Schatten unter den Uferbäumen war es merklich kühler. Dennoch führten nur vereinzelte Leute ihren Hund aus oder gingen spazieren, und es joggte auch kaum jemand.

      Über die Wege flimmerten die Muster des Lichts, das durch die dichten Baumwipfel bis auf den Erdboden fiel. Die unten in der Stadt zu zwei Seen aufgestaute Alster war hier oben im Hamburger Nordosten an ihren schmalsten Stellen nicht breiter als ein Feldweg. Steinerne kleine Brücken überspannten das Flüsschen. Erstaunlich schnell floss es dahin, morastig braun in der Sonne, unterm Blätterdach der Birken und Eschen hingegen dunkelgrün und golden leuchtend.

      Im Gehen griff Merz immer hastiger in die Papiertüte und riss sich süße Happen von der klebrigen Schnecke, und er genoss es, sich dann jedes Mal neu den Zuckerguss von den Fingern zu lecken. Stundenlang hätte er so weiterlaufen können, allein mit sich, in diesem schönen Licht, in diesem angenehm kühlen Schatten am Ufer der ihren Blumenvasengeruch verströmenden Alster, mit dem Ausblick – gleich, ob er ein trügerischer war –, sein Leben endlich in die eigene Hand nehmen und die Dinge wohin auch immer biegen zu können. Als er aufgegessen hatte, zerknüllte er die Tüte in der Faust und bewarf mit dem Knäuel ein paar vorüberschwimmende Enten, die sich auf der Stelle über das Papier hermachten und es wie von Sinnen zerfetzten. War das zu fassen? Erschüttert, weil er merkte, wie ihm die Tränen kamen, blieb er stehen.

      Die Enten schwammen weiter, und was von der Tüte übrig war, das ging unter und löste sich im Wasser auf, während er am Ufer stand, die zerstörerische Gier auf sich bezog und dem Kummer und Unmut, die er seit Tagen zurückdrängte und totschwieg, nichts mehr entgegenzusetzen wusste. Er war maßlos wütend. Aber zugleich verspürte er eine abgrundtiefe Traurigkeit. Wäre er in diesem austrocknenden Auenwäldchen tatsächlich allein gewesen und nicht noch immer übervorsichtig, um ja kein unnötiges Aufsehen zu erregen, er hätte laut losgeheult.

      In diesem Zustand, der ihn außer sich sein ließ und doch ganz bei sich, ging ihm Floriane durch den Sinn. Was war der Grund dafür, sein schlechtes Gewissen, weil er Inger so unverfroren nachstieg? Er hatte kein schlechtes Gewissen. Er hatte fast ein Drittel seines Lebens auf diese Gelegenheit gewartet. Dennoch fühlte er sich seiner Frau mit einem Mal so verbunden wie seit Jahren nicht mehr. Wäre nur eine Übereinkunft mit ihr möglich! Aber nicht mal aussprechen konnte er sich mit Flori. Dabei war er sich sicher, dass sie beide noch immer der zornige Kummer verband, der sie vor so langer Zeit ein Paar hatte werden lassen.

      Merz erinnerte sich an die heftigen Tumulte, nachdem Inger schwanger geworden war und ihre Viererfreundschaft am Müggelsee auseinanderbrach. Er dachte an die Zeit zurück, als Jahre später ihre Jüngste ein Baby war und abgesehen von ein paar Stunden am Nachmittag, wenn die Kleine erschöpft schlief, von morgens bis abends und fast jede Nacht aus Leibeskräften schrie. Linda brüllte, schien ihnen, wie kein Kind je gebrüllt hatte. Um zu schreien, schien sie auf der Welt zu sein. Es gab kein Gegenmittel, nichts und niemand konnte ihnen helfen. Durch nichts ließ sich das kleine Mädchen davon abbringen, seinen Schmerz, seine Verzweiflung oder was immer es war, der Welt entgegenzubrüllen. Sie verbrachten diese Monate in dumpfem Schweigen nebeneinander, zermürbt von einem Lärm, der nicht furchtbarer gewesen wäre, hätten sie in einer Wellblechhütte unmittelbar neben der Autobahn gelebt. Flori entdeckte schließlich wenigstens für sich eine stille Nische, indem sie sich täglich für ein paar Stunden hinter zwei Feuerschutztüren in einem lärmdichten Kellerraum verbarrikadierte. Während sie unten döste, ein kieferchirurgisches Fachjournal las oder einfach nur die weiße Wand anstarrte, ging er mit verstopften Ohren oben im Flur hin und her. Alles im Haus vibrierte, wenn das Baby brüllte. Priska, die drei war, bekundete des Öfteren ihre Verwunderung darüber, wie still die Welt war, sobald man draußen vorm Haus stand. Er hatte Lindy auf dem Arm und blickte aus vor Müdigkeit schmerzenden Augen fassungslos in den brüllenden Kinderrachen. Sein schreiendes Kind war von unbändiger Kraft. Alles, was es war, setzte es in jedem Moment aufs Spiel. Etwas stimmt nicht, schien ihm Linda schon als kleiner Wurm mitteilen zu wollen, etwas kann nicht richtig daran sein, dass ich nicht mehr dort bin, wo ich selig war.

      Blicklos, mit nach innen gekehrten Augen, saß Merz in seinem vor der Druckertankstelle parkenden Hybridauto und überließ sich seinen Erinnerungen. Damit die Klimaanlage die stickig heiße Luft im Wageninnern kühlte, stellte er den Motor an, und es dauerte nicht lang, da kam auf dem Gehweg ein verhutzelter Rentner vorbei und forderte ihn mit zwar stummen, aber abfälligen Gesten beharrlich dazu auf, zu verschwinden und nicht länger die Luft zu verpesten.

      Durch die Windschutzscheibe sah Merz den Alten lange an, bewegte sich aber nicht. Erst als der Mann anfing zu pöbeln, zeigte er ihm die Faust, spreizte den Daumen ab, dann den Zeigefinger und zielte auf ihn wie mit einer Handfeuerwaffe, ehe er so lange auf die Hupe drückte, bis der erschrockene Greis fluchend das Weite suchte.

      Merz ließ das Seitenfenster hinunter. »Ist was, bucklige Brotspinne?«, schrie er dem Rentner nach. »Bist du der, dem hier die Luft gehört? Mach, dass du wegkommst, du Luftbesitzer, oder ich fahr dich über den Haufen! Glaubst du nicht? Dann komm her, stell dich vor meinen Kühler! Ich fahr dich platt, so platt wie ein Blatt.«

      »Raimund, bist du das?«

      Merz war sich nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. Eine ihm unbekannte Frau rief nach ihm, eine Fremde mit allerdings vertrauter Stimme. War das möglich?

      »Was machst du? Hör doch auf, was soll denn der Lärm!«

      Wer rief da, wer war die Frau?

      Er hatte sie nur im Augenwinkel gesehen. Jetzt blickte er über die Schulter und sah dort auf dem Bürgersteig neben seinem Auto Inger stehen. Sie beugte sich zu ihm hinunter. Sie trug enge Jeans, ein ärmelloses grünes Top und im Haar ein zum schmalen Band gefaltetes weißes Tuch. Sie hatte einen leeren Einkaufskorb dabei, er baumelte ihr von der Armbeuge.

      Sie war eine Einbildung.