Lichter als der Tag. Mirko Bonné. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mirko Bonné
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783731761198
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echt krass.«

      »Und dieses Transparent«, fragte Merz, »was stand da drauf?«

      »Ein kurzer Satz von Wolfgang Borchert«, sagte Priska. Sie zuckte mit den Achseln und stand vom Tisch auf. »Das war nun mal – huhu! – die Vorgabe für den Flashmob-Tag. Heinrich-Heine-Gymnasium: zwei, drei berühmte Worte von Heini Heine. Wolfgang-Borchert-Schule: zwei, drei berühmte Worte von Wolfgang Amadeus Borchert. Gezeichnet: die Schubladenbehörde. Gähn. Awkward.«

      »Ordnung ist das halbe Leben«, sagte er überflüssigerweise.

      Priskas unerbittlicher Kommentar lautete: »… und die andere Hälfte Arbeit, klar, Papa.«

      »Was stand denn nun drauf?«, fragte Floriane.

      Ihre Tochter war schon im Flur, als sie noch rief: »Was wohl? ›Sag nein!‹ Gähn. Say no.« Prissy lachte spöttisch, und kurz darauf flog oben ihre Tür zu.

      Am Tisch fragte Floriane, als wären sie im Fernsehen: »Noch Salat?« Dabei sah sie ihn an, hob die Hände und flüsterte: »Was ist los mit dir? Muss ich mir Sorgen machen?«

      Es lag vielleicht an der Monotonie einer täglich vierundzwanzig Stunden lang abgesicherten Existenz, eher aber an der festgefahrenen Lage, ja der einzementierten Schieflage der späten mittleren Jahre, wenn ein Ehemann und Vater, ein erfahrener Mann wie Raimund Merz praktisch stündlich damit rechnete, dass alles in sich zusammenstürzte und die Trümmer wie Schaumstoff den Bach runtergingen.

      Nie beglichene, uralte Rechnungen mussten dafür verantwortlich sein, wenn er drei Tage nach dem ersten Wiedersehen alle Vorsicht über den Haufen warf und auf die Suche nach Inger ging. Bei vollem Bewusstsein und doch wie von Sinnen stürzte er sich kopfüber in ein Wagnis, das ihn von Anfang an zugleich berauschte und verzweifeln ließ.

      Hatten sie sich wirklich in Berlin zuletzt getroffen?

      An ihrem letzten Abend am Müggelsee war es gewesen, im Garten ihres gemeinsam gemieteten Ferienhauses ein paar Kilometer südlich von Köpenick. Seither hatte es keinerlei Kontakt mehr zwischen Moritz und Inger und Flori und ihm gegeben, und er war all die Jahre standhaft geblieben und hatte nie auch nur den leisesten Versuch unternommen, etwas über Rauchs in Erfahrung zu bringen.

      Es gab von früher keine Freunde mehr, die einmal Moritz’ und auch seine gewesen waren, und so war der einzige Mensch in seinem Umfeld, der sich an Rauchs noch erinnerte, Floriane, der aber noch weniger als ihm daran lag, über den Verbleib der einstigen Freunde und des Kindes informiert zu sein. Flori war nie gut auf Pippa zu sprechen gewesen, und in ihren Augen hatte sie mehr als triftige Gründe dafür. Wie sollte die Tochter anders sein als die Mutter?

      Als Merz an diesem Donnerstag zum allerersten Mal ihre Namen in die Maske der Suchmaschine eingab, war er verblüfft; denn nichts kam dabei heraus. Sie hatten keine Firma, kein Büro oder Atelier. Der große Architekt, der Moritz immer hatte sein wollen, war nicht mal ein kleiner, wie es schien. Und auch Inger war anscheinend weder als Künstlerin oder sonstwie freiberuflich tätig noch irgendwo angestellt. Beide waren sie in fast fünfzehn Jahren nie in Erscheinung getreten, sie waren weder Mitglieder eines Vereins noch bei einem sozialen Netzwerk registriert.

      Als Niemand aufzutauchen und als Niemand wieder zu verschwinden war respektabel. Nur konnte man dazwischen wenigstens versuchen, auch für andere da zu sein, jemandem zu helfen oder zuzuhören. Aber wer tat das schon, er selber so wenig wie seine Frau, Flori so wenig wie Inger, die sich genauso stets nur um ihre eigenen Angelegenheiten gekümmert hatte.

      Ihre Malerei, ihre Adoptivtante, ihren Mann und später das Kind.

      Und Moritz? Was gab er nicht immer an mit der Erfolgsgeschichte seines Vaters, erst recht, als der Tanke-Rauch längst alles verloren hatte! Moritz sah darin die Gelegenheit, jede ihm angeblich aufgepfropfte Unternehmerambition abzuschütteln, und brüstete sich fortan mit erfolgreichem Aufbegehren. Im Internet aber fand Merz kein einziges Foto von ihm und von den einstigen Tankstellen nichts als ein paar grobkörnige Aufnahmen verblasster, halb zerborstener Leuchtstofftafelsammlerstücke, auf denen der lange vergessene Firmenname zu lesen war: Rauch & Kossleck.

      Wo wohnte man, wenn man niemand war?

      Allem Anschein nach waren zumindest Inger und Pippa irgendwann aus Berlin zurückgekehrt und in den Hamburger Nordosten gezogen, denn weshalb sollte das Mädchen sonst auf eine Schule am Alsterlauf gehen?

      Pippa war die Einzige, über die sich etwas herausfinden ließ. Offenbar war sie eine Zeit lang Kunstrad gefahren. Sie hatte ihre Plüschhundesammlung fotografiert und alle Bilder sorgfältig untertitelt und nach Größe und Farbe sortiert auf die Webseite einer Stofftierbörse geladen. Hatte Moritz ihr dabei geholfen? Es war wirklich rührend. Zumal man auf mehreren der süßen Fotos im Hintergrund die Mutter der kleinen Hundenärrin sah. Die Frau mit den lachenden Augen, über denen noch immer der alte schöne Schatten lag, war eindeutig Inger.

      Aufgewühlt und reizbar, seit er am Morgen die Fotos im Netz gefunden hatte, aß Merz an diesem quälend heißen Donnerstag mit Bruno DeWitt in der Hafencity zu Mittag. Er ärgerte sich, ohne das Bruno zu sagen, über einen Aschenbecher vor ihnen, der unter seinem Deckel offenbar vor sich hin kokelte und einen üblen Geruch verbreitete. Es war dieser stinkende Ascher, mit dem kurz darauf ein abenteuerlicher Nachmittag begann.

      Bruno berichtete von der Reportage, an der er schon seit Wochen schrieb. Die Landschaftsmalerei der Schule von Barbizon, zum Verzweifeln. Viel zu lange hatte er die notwendigen Recherchen vor sich hergeschoben.

      »Ich lebe eigentlich Mitte des 19. Jahrhunderts«, sagte er. »Und um mich rum«, er breitete die Arme aus, »das kann nur der Wald von Fontainebleau sein.« Bruno stand auf. »Ich sehe ständig Felder vor mir, einen Hohlweg oder eine Baumgruppe, und zugleich weiß ich, die gibt es bloß auf alten Gemälden, bei Daubigny und Rousseau. Wie Gott sie schuf, liegt nachts die entzückendste Frau neben mir, und was mache ich? Ich denke nach über Antoine Chintreuils Wolken.«

      »Du findest Fritzi Feddersen entzückend?« Merz war fassungslos. »Das meinst du nicht im Ernst. Sie ist keine Frau, sondern unsere Justiziarin.«

      »Sie ist beides, Raimund Merz.«

      Nur selten war Bruno derart humorlos. Seufzend verschwand er nach drinnen zur Toilette, und sofort schraubte Merz den Aschenbecher auf, um nachzusehen, was darin qualmte, »pöserte«, wie man in Hamburg sagte. Die Namen der Maler, die Bruno erwähnt hatte, schwirrten ihm wie Möwen durch den Sinn, für ein paar Augenblicke bedauerte er, dass er weder von Daubigny oder Rousseau noch von diesem André oder Antoine Chintreuil irgendein Gemälde kannte. Der Wald von Fontainebleau. Wo lag der?

      Aus dem Ascher kam der Gestank nicht. Er war mit Chromlack überzogen, Merz sah sein Gesicht darin gespiegelt, das Himmelsblau und tatsächlich Wolken. Er tauchte eine Fingerspitze in den grauen Puder zwischen den Kippen; und wie früher, als wäre er wieder sechzehn, bestrich er sich einem plötzlichen Impuls folgend mit der Asche links und rechts die unteren Lider, so wie manchmal mit Moritz in der Pause auf dem Schulhof, wenn sie einen ihrer Lehrer hatten verunsichern wollen. Bruno kam zurück, er setzte sich. Merz nahm die Hand von den Augen und betrachtete den Freund, mit möglichst mattem Blick, wie ein Gespenst im hellblauen Hemd.

      »Na und, sie ist Justiziarin, Himmel. Und lass du dir gesagt sein, es ist nur gerecht, dass ein so wundervolles Wesen wie Fritzi Feddersen auf dieser gegen die Wand gefahrenen Welt lebt. Denn ohne Menschen wie sie wäre das Leben … – meine Güte, du siehst ja aus wie der Tod!«

      Kein Wunder. Wenn er je gelebt hatte, war das lange her. Wäre er aufrichtig gewesen, hätte er das zu Bruno sagen müssen. Stattdessen blickte er ihn aus vorgetäuscht tiefen Augenhöhlen nur an. Merz lächelte erschöpft. Er litt.

      Wenig später war er für den Rest der Bürowoche entschuldigt. Melly, der Sekretärin, musste er versprechen, sofort zu seinem Hausarzt zu gehen. Er spürte die mitleidlose Neugier seiner Kollegen, die ihm alles Gute wünschten, ohne zu wissen, was das war. Bruno legte ihm den Arm um die Schultern. Das zum Beispiel! Er brachte ihn nach unten vor die Tür, wirkte nachdenklich und war einsilbig, und Merz wusste – oder ahnte –, warum. In vier Tagen sollten sie zusammen nach Stuttgart fahren, damit