Der Kuss des Feindes. Titus Müller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Titus Müller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783961224111
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er erschrocken die Hand zurück. Er roch an seinen Fingern und rieb sie gegeneinander. Ranziger Geruch stieg ihm in die Nase. Erneut befühlte er die Wand, vorsichtiger diesmal. Da war eine Nische, in der ein kleines Schnabelbecken stand. Hier musste er hineingefasst haben. Neben dem Becken fühlte er einen Fetzen Werg und zwei Steine.

      Er wischte seine Hand am Hemd trocken, nahm das Werg und legte es sich zwischen die Füße. Einen Stein in der Linken, den anderen in der Rechten, kauerte er sich nieder. Er schlug die Steine gegeneinander. Sofort roch es verbrannt. Das Klacken der Feuersteine hallte von den Felswänden wider, bis endlich ein Funke ins Werg flog und es entzündete. Arif hielt das brennende Werg an den Schnabel der Öllampe. Eine kleine Flamme sprang auf.

      Im Lichtschein sah er sich um. Er befand sich in einer schmalen Kammer, an deren Seite ein rundbehauener Stein vor einer Öffnung in der Felswand stand. Natürlich, so schnitten sie Verfolgern den Weg ab: Die Öffnung führte in den Hauptgang, und von diesem Wachraum aus konnte ein Troglodyt mittels des Mühlsteins den Hauptgang verschließen, indem er den Stein durch die Öffnung rollte und anschließend mit Keilen befestigte. Spitzhacken zu besorgen und den Mühlstein zu zerschlagen, mochte Stunden dauern, wenn nicht sogar Tage. In dieser Zeit waren die Troglodyten längst durch ihren Tunnel entkommen. Er schürzte anerkennend die Lippen. Sie waren keine verschüchterten Flüchtlinge, die sich in Felsspalten verkrochen hatten. Die Troglodyten hatten eine unterirdische Stadt errichtet und sich mit Bedacht in sie zurückgezogen.

      An der Seite, die dem Schnabel gegenüberlag, besaß die Öllampe eine kleine Öse. Arif steckte seinen Zeigefinger hindurch und hob die Lampe an. Ihr unsteter Flackerschein begleitete ihn in den Felsengang.

      Er schlich an Fellen vorüber, die abzweigende Höhleneingänge verdeckten. Dahinter schnarchte jemand. Ein Kind weinte und wurde mit leisem Gesang getröstet. An einer Gabelung blieb er stehen. Von wo waren Savina und er gekommen? Er leuchtete in die linke Abzweigung und ging einige Schritte hinein. Es roch seltsam hier, nach Eisen und Essig.

      Wie kam es, dass die Wände in diesen ungewöhnlichen Farben leuchteten? Er trat näher an sie heran und hob die Lampe. Jemand hatte das Paradies gemalt: Bäume, Vögel mit langen, schweifartigen Schwänzen, Füchse und Hasen und tanzende Menschen.

      Man hatte ihn gelehrt, dass die Troglodyten schlitzohrige Raffhälse waren, niemals fähig, Kunstwerke zu erschaffen, wie die Araber es taten: fein gemusterte Teppiche zu weben, Kamelsättel zu verzieren oder Worte wie Ehre und Mut in Schwertklingen zu gravieren. Aber diese Wandmalerei war mit großer Kunstfertigkeit erschaffen worden, mit einem Blick für Schönheit in kleinen Details. Sie stand arabischen Darstellungen in nichts nach.

      Er kniff die Augen zusammen. Unmöglich! Das Pferd im Paradiesgarten … Er hätte seine Stute unter Tausenden Pferden erkannt. Die blassrote Farbe, als habe sie im Staub der Steppe gebadet, die vernarbten Flanken, der schlanke Hals, die Wölbung der Kruppe. Der Künstler hatte Layla an die Wand der unterirdischen Troglodytenstadt gemalt.

      Beobachteten sie ihn? Seine Ausritte, seine wiederholte Flucht in die Wildnis – hatten die Troglodyten ihn jedes Mal belauert? Er rührte mit den Fingerspitzen an die Wand. Die Farbe war klebrig, das Bild war noch frisch. Etwas von Laylas fahlrotem Fell blieb an seinen Fingerspitzen haften. Wenn der Künstler ihn und Savina gesehen hatte, als sie versucht hatte, auf Layla zu reiten, dann war das Mondmädchen in Gefahr.

      »Das dritte Mal diese Woche, dass die Archimedische Schraube klemmt«, sagte eine raue Stimme weiter hinten im Gang.

      Arif fuhr zusammen. Er blies das Licht der Öllampe aus. Trotzdem wurde es nicht dunkel. Ein heller Schein näherte sich.

      »Wer hat’s gemeldet?«

      »Die alte Eudokia. Sie sagt, sie hat nichts angerührt. Spielt keine Rolle, ob sie es war. Die Leute kurbeln, als wäre der Brunnen eine Handmühle. Sie vergessen, dass die Technik auch Grenzen hat.«

      Arif riss sich das Tuch vom Kopf. Sie erkennen mich, dachte er, sie erkennen mich trotzdem, niemand hier hat so dunkle Haut! Er sah sich um. Wo war der nächste Höhleneingang? Er hastete dorthin und schlüpfte durch den Fellvorhang.

      »Was hilft’s. Irgendwann müssen wir sie neu bauen«, sagte draußen die Männerstimme. »Das Ding taugt nichts mehr.«

      Arif verharrte in der Dunkelheit der fremden Höhle und hielt den Atem an. Es war eine schlechte Idee gewesen, in das Versteck der Christen einzudringen. Nicht einmal ein Held wie Utman hätte sich aus dieser Falle herausschlagen können, geschweige denn er, Arif. Wie sollte er gegen Tausende Troglodyten ankommen?

      Eine Kinderstimme fragte: »Wer bist du?«

      Arif schluckte.

      Das Kind sagte noch einmal: »Wer bist du?«

      »Ich bin Arif.«

      »Ist es schon Morgen?«

      »Nein.«

      »Ich kann nicht schlafen. Ich darf aber erst aufstehen, wenn es Morgen ist. Mama schimpft sonst.«

      »Schlafen deine Eltern hier bei dir?«, flüsterte Arif. »Dann müssen wir leise sein.«

      Das Kind redete unbeirrt weiter. »Es ist langweilig, wenn man nicht schlafen kann. Warum können Erwachsene immer schlafen? Schlafen ist blöd. Ich will spielen.«

      »Ich weiß ein Spiel.« Er dachte nach. »Willst du mit mir durch die dunklen Gänge schleichen, bis zum Ausgang?«

      »Gibst du mir deine Hand?«

      Er starrte in die Dunkelheit. »Wie alt bist du?«

      »Bald bin ich fünf.«

      So klein war das Kind noch. Dann würde es keine Hilfe sein. »Kennst du den Weg nach draußen?«

      »Da darf ich nicht hin. Draußen sind böse Männer. Aber zum Geburtstag war ich unter dem schönen großen Himmel. Ich hab Mama geholfen. Wir haben Weintrauben abgerissen – «

      »Nicht so laut! Du musst flüstern.«

      » – von den Strünken, aber die waren schon eingetrocknet, das war ein geheimer Platz, wo die Weintrauben zu Rosinen werden. Wollen wir Weintrauben essen? In der Vorratshöhle hängt Mama die auf und sie bleiben ganz lange lecker.«

      Er folgte der Stimme des Kindes. Nach wenigen Schritten stieß er mit dem Fuß gegen einen Strohsack. Er bückte sich und hob das Kind hoch.

      »Naschen wir Traubensirup?«

      Vom anderen Ende der Höhle tönte scharf eine Frauenstimme: »Mit wem redest du?«

      Der Kleine verstummte.

      Arif setzte ihn auf den Boden. Er schlich zur Türöffnung und spürte regelrecht, wie die Frau auf das Knirschen der Sandkörner unter seinen Füßen lauschte.

      Der Junge sagte leise: »Mit meinem Freund.«

      Zeit zu gehen, dachte Arif. Gerade wollte er durch den Fellvorhang schlüpfen, da dröhnte ein tiefer Ton durch den Gang, wie von einem Widderhorn. Arif bekam eine Gänsehaut. Draußen wurde es hell und Männerstimmen riefen: »Zu den Waffen! Araber in Korama!«

      Jonathan hastete die Gänge entlang. Als die Fackel in seiner Hand beinahe erlosch und es finster wurde um ihn herum, blieb er kurz stehen und drehte sie in der Hand, damit sich das Feuer wieder in das Holz fraß. Kaum flammte die Fackel auf, rannte er weiter. Savina war ihm als Erstes eingefallen, im Augenblick des Erwachens, während die Warnrufe der Wächter durch die Höhlenstadt gellten. Dort vorn war die Wohnung ihrer Familie. Er stieß den Fellvorhang beiseite und trat ein. Ihr Vater zog sich gerade die Schuhe an und fuhr erschrocken zum Eingang herum.

      Auch Savina erbleichte. »Jon! Wie kannst du uns so erschrecken!«

      »Das wollte ich nicht«, entschuldigte er sich. »Musste nur sehen, ob es dir … ob es euch gut geht.«

      Sie musterte ihn.

      Von ihrem Blick wurden ihm die Knie weich. Er war immer ein mutiger Mann gewesen. Während andere Händler auf sichere Routen ausgewichen waren, hatte er sich bis vor ein paar Monaten