Der Kuss des Feindes. Titus Müller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Titus Müller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783961224111
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will nichts stehlen«, sagte er.

      »Ach ja? Und warum bist du dann hier?«

      Es musste die Mondfrau sein. Er sagte: »Aus Neugier.«

      »Du hast einen Lärm gemacht wie ein Trampel. Jetzt wird dich deine Neugier das Leben kosten.«

      Arif atmete vorsichtig ein. Wenn er eine falsche Bewegung machte, schlitzte ihm die scharfe Klinge die Kehle auf. »Man erzählt sich über euch, dass ihr …« Er stockte. Vom Schlangengift durfte er nicht sprechen. Es würde sie daran erinnern, dass Vater die Brunnen vergiften lassen hatte.

      »Was erzählt man sich?«

      »Ich habe gehört, ihr Troglodyten seid in der Lage, euch wie Dschinns unsichtbar zu machen«, log er.

      »Was sind Dschinns?«

      »Geister.«

      Sie nahm das Messer fort. »Du musst sterben.« Ihre Stimme zitterte, als sie das sagte. »Du hast einen Ort betreten, den du nicht betreten durftest.«

      Er drehte sich um. In der Finsternis konnte er nichts erkennen. Holte sie schon aus, um ihm mit dem Messer den letzten Stoß zu versetzen? »Savina, so heißt du, richtig? Ich bin zwar Araber, aber das ist kein Grund, mich zu töten. Viele hassen mich in meinem Stamm. Man hört nicht auf mich.«

      »Du lügst.«

      »Ich sage die Wahrheit! Und ich werde euch nicht verraten.«

      Savina schwieg. Schließlich verlangte sie: »Schwöre bei Gott, dass du diesen Ort an niemanden verrätst!«

      »Du glaubst an Gott?«

      »Was dachtest du denn? Ich bin Christin.«

      »Ich dachte, ihr Christen habt den Glauben an Allah aufgegeben.«

      »Allah nennt ihr ihn? Wir nennen ihn Gott. Und wir beten täglich zu ihm.« Sie packte seinen Arm. »Schwöre bei Allah!«

      »Ich schwöre bei Allah, dass ich euch nicht verraten werde.«

      »Gut. Ich kann dich trotzdem nicht gehen lassen. Aber ich verstecke dich, bis mir etwas einfällt. Die Wächter dürfen dich auf keinen Fall sehen, sonst bist du schneller tot, als du deinen Namen sagen kannst.« Sie ging in die Finsternis und zog ihn mit.

      Er flüsterte: »Könnt ihr im Dunkeln sehen?«

      »Ich war schon oft hier, das ist alles.«

      Er hörte ein Blöken. Es schien direkt aus dem Fels zu kommen. »Was war das?«, fragte er.

      »Ein Schaf, du Dummkopf. Wir haben Ställe.«

      »Ställe unter der Erde!«

      »Wir haben keine Wahl, ihr habt uns in die Tiefe vertrieben. Jetzt sind wir Gefangene unserer eigenen Stadt. Hier gibt es keine Bäume, keine Blumen, keine Vögel. Letzten Sommer habe ich noch auf der Wiese – « Sie verharrte plötzlich und packte seinen Arm fester. »Still! Dort vorn sind Wächter.«

      Ein schwacher Schimmer erschien auf den Wänden.

      »Zieh deine Schuhe aus«, befahl sie.

      Er gehorchte. Der Felsboden rührte kalt an die Fußsohlen.

      »Jetzt lauf! Und leise! Wir müssen vor ihnen am Schacht sein, aber sie dürfen uns nicht hören.« Sie rannte los.

      Er folgte ihr. Seine Füße flogen über den Felsen. Wenn die Wächter das Kufiya-Tuch auf seinem Kopf sahen und die dunkle Haut, dann begriffen sie sofort, dass ein Spion in ihr Versteck eindrang. War es nicht besser, umzudrehen und zurück zum Einstiegsloch zu rennen? Schon strahlte das Licht hell von den schroffen Felswänden. Nur noch eine Biegung des Gangs trennte sie von den Wächtern. Savina kletterte in einen Schacht zu ihrer Rechten, es sah aus, als würde sie durch Zauberei die nackten Felswände hinuntersteigen, mit Füßen, die an der Wand hafteten.

      Nur schwach erkannte er Stufen und Ritzen, die in die Felswände getrieben waren. Er zog sich die Sandalen an, setzte den Fuß in eine Ritze und begann, ebenfalls abwärtszuklettern. Er hörte Schritte über sich. Das flackernde Fackellicht half ihm, die Vertiefungen im Felsen zu finden.

      Unten zog ihn Savina in die Dunkelheit. »Was machst du so lange?«, flüsterte sie. »Zieh die Schuhe wieder aus! Hinter diesen Fellvorhängen schlafen Familien.« Savina wartete nicht, bis er die Sandalen ausgezogen hatte. Sie eilte, immer noch barfüßig, durch den Gang davon.

      Arif schlüpfte aus den Sandalen und beeilte sich, ihr zu folgen. Je weiter er sich vom Schacht entfernte, desto dunkler wurde es. Bald sah er nichts mehr. »Savina«, flüsterte er.

      Keine Antwort.

      »Savina?«

      Er war von Schwärze umgeben. Das Atmen von Dutzenden Schlünden hallte von den Wänden wider. Jemand schmatzte. Er, Arif ibn Haroun, war im Inneren des Berges, umgeben von Troglodyten. Ihn fröstelte.

      »Wo bleibst du?« Savina fasste seine Hand und zog ihn mit. Es ging eine steile Treppe hinab, noch weiter nach unten. Ein Geländer gab es nicht, er griff ins Leere. Wenn er einen falschen Schritt machte, würde er abstürzen.

      »Bekommen wir da unten Luft?«, fragte er.

      »Dafür sind Schächte in den Felsen gehauen. Man kann überall frische Luft atmen.«

      »Wann habt ihr das gebaut? Es muss Jahre gedauert haben.«

      »Manche Geheimgänge sind sehr alt. Unsere Vorfahren haben sich hier schon versteckt, als die Perser aus dem Osten kamen.«

      Arif blieb stehen. »Was ist das?«

      Auch Savina verharrte. Er konnte ihren Atem nahe bei sich hören. »Was meinst du?«

      Wieder krachte es in der Tiefe. Es klang, als würde Gestein durch den Berg spritzen. »Hörst du nicht?«

      »Sie erweitern einen Tunnel.«

      »Mitten in der Nacht?«

      »Denk drüber nach, dann kommst du selber darauf, wieso sie das nachts machen.« Sie ging weiter.

      Der Krach konnte tagsüber ihr Versteck verraten. Im Dunkeln kletterte keiner von Vaters Spähtrupps in die Berge, es war zu gefährlich, weil man lose Steine und Abgründe nicht sah. Es war sicherer für die Troglodyten, in der Nacht ihre Gänge zu graben.

      Savina flüsterte: »Hier ist unser Wohnraum. Aber da kann ich dich erst verstecken, wenn mein Vater und meine Schwester arbeiten gegangen sind.«

      »Wie können sie arbeiten gehen, ohne die Höhle zu verlassen?«

      »Vater arbeitet in einer der Schulen, die unterirdische Stadt hat zweitausend Kinder. Pherenike bringt Stroh in die Ställe und trocknet Dungfladen zum Heizen im Winter.« Savina führte ihn weiter. Nach gut zwei Dutzend Schritten schob sie ihn in einen Winkel. »Rühr dich nicht von der Stelle, bis ich dich am Morgen hole. Versuch nicht zu fliehen. Du würdest dich verirren. Und falls du doch einen Ausgang findest – es sind überall Wächter. Bleib hier, wenn du leben willst.«

      Arif flüsterte: »Warte.« Er zögerte kurz. »Warum hilfst du mir? Ich bin dein Feind.«

      Für einen Moment war es still. Dann sagte sie: »Du hast friedlich ausgesehen. Ich kann nicht glauben, dass du einer bist, der mordet.«

      Ihr Lob schmeckte bitter. »Ich bin nicht feige.«

      »Ich habe nur gesagt, dass du nicht wie einer aussiehst, der mordet. Wärst du feige, dann wärst du nicht hier.«

      5

      Das Schwert!, schoss es Arif durch den Kopf. Ich habe mein Schwert liegen gelassen! Wenn die Troglodyten es bei Sonnenaufgang am Erdloch fanden, wussten sie, dass ein arabischer Späher in ihre Höhlenstadt eingedrungen war. Sie würden überall nach ihm suchen.

      Gab es Fackeln in diesem Trakt? Er betastete die kalte Steinwand. Nichts. Die Vorstellung, ohne Licht durch die pechschwarzen Gänge zu stolpern, ließ ihm das Herz sinken. Die Treppen und tiefen Schächte waren