»Nein, Muschchen, ich wollte jetzt mit Delia zu Gretel hinübergehen, sie erwartet uns schon.«
»Jetzt, in der Mittagshitze?« fragte ich kläglich. Mein Mittagsschläfchen aufgeben und statt dessen in der Sonnenglut den Landweg laufen, das ging mir doch über die Gemütlichkeit. Ich war ja kein robustes Bauernmädchen, wie Guste; Tante hatte es selbst gesagt, ich war eine feine Stadtpflanze!
Aber Tante schien das im Augenblick nicht in Betracht zu ziehen.
»Ach, im Wald geht immer ein frisches Lüftchen,« sagte sie freundlich mitleidlos, »und ihr seid auch gleich da. So weichlich sind wir hier überhaupt nicht; ob warm, ob kalt, das geniert keinen, und daran wirst du dich schnell gewöhnen, liebes Kind. Das giebt nachher die runden, roten Bäckchen und die kräftigen Nerven, die du dir hier holen sollst. Also lauft nur. Ich kann mir schon denken, daß Gretel darauf brennt, unser Stadtprinzeßchen kennen zu lernen, und Delia wird Augen machen, wenn sie Gretel sieht!«
Dazu lächelte die Tante so ganz besonders befriedigt, und als ich nun sah, daß mein Mittagsschläfchen rettungslos verloren war, stieg auch in mir die Neugier auf das kleine Schloßfräulein wieder mächtig empor. Da würde ich doch jemand finden, der Verständnis für meine feineren Empfindungen und Wünsche hatte. Hier diese Leute, wenn sie auch sonst ganz nett aussahen, und im ersten Anlauf wirklich über ihre Pächterstellung forttäuschen konnten, blieben eigentlich doch Bauern, man merkte es eben an ihrem Unverstand für feine Naturen.
Ich war im Augenblick ganz böse. Das Froschungeheuer, das schon hie und da menschliche Seiten gezeigt hatte, blähte sich jetzt wieder in seiner vollen Häßlichkeit, und wenn nicht der Hoffnungsstrahl der vornehmen kleinen Schloßbewohnerin gewesen wäre, so hätte ich vielleicht jetzt in meiner beliebten Manier eine verzweifelte, thränenreiche Scene arrangiert.
Aber nun nahm ich mich zusammen und sagte so wenig unhöflich und beleidigt wie möglich: »Wie du meinst, Tante. Bei uns in der Stadt macht man zwar nicht um diese Zeit Besuche, aber ich will mich dann doch dafür umziehen gehen –«
»Umziehen? Weshalb denn?« fragte Guste erstaunt. – »Es ist doch heute nicht Sonntag. Du siehst überhaupt schon so ausgeputzt aus und nun willst du dich noch feiner machen?«
»Aber wenn man einen ersten Besuch macht, zieht man sich doch anständig an,« antwortete ich kurz und hoheitsvoll.
Guste lachte, daß sie sich schüttelte. »Aber du, so ist es doch nicht hier zwischen uns. Muschchen, sag du es ihr doch – Gretel lacht uns ja aus!«
Die Tante lächelte auch. »Nein, meine Delia, umzuziehen brauchst du dich wirklich nicht. Hier auf dem Lande macht man keine Umstände, daran mußt du dich gewöhnen. Wirf nur all den thörichten Ballast der vornehmen Stadtideen hinter dich, Kind. Wir sind hier einfache Leute, und besonders Kinder, wie ihr drei, habt noch nicht nötig, die Manieren der Erwachsenen nachzuahmen. Lauft jetzt nur fort, wie ihr gebacken seid, Gretel wartet sicher schon.«
Auf allen Seiten mit meinen Anstandsideen geschlagen und innerlich tief gekränkt, schritt ich neben Guste in den Wald hinein. Zu heiß war es wirklich nicht. Vom See her wehte, wie Tante es prophezeit hatte, ein frisches Lüftchen, dem die zarten Buchen und dunklen Tannenzweige grüßend entgegenrauschten. Überall am Wegrain blühte und duftete es von lieblichen, kleinen Sommerblumen, goldene Sonnenstrahlen blitzten und flimmerten auf Moos und Laub, und uns zur Linken dehnte sich in köstlicher Weite der blau und golden funkelnde See. Es war wirklich wunderschön, aber ich wollte das nicht empfinden, ich war so verdrießlich und beleidigt, daß ich nicht den Mund aufthat und die Füße hinter mir herschleppte wie Holzklötze.
Alles sollte ich thun, wie diese Leute es wollten! – Ich verstand doch von dem, was sich schickt, mehr wie sie, die hier auf dem Lande verbauert waren!
Was würde nur die kleine Baronesse denken, wenn ich so im Alltagskleide, ohne Handschuhe und ohne irgendwelchen Schmuck den ersten Besuch machte? Das quälte mich am meisten. In Gedanken hatte ich mir für diese Staatsaktion schon mein weißes, elegantes Wollkleid zurecht gelegt, mit der himmelblauen, breiten Schärpe, und dazu den großen Hut mit der weißen Feder, – Tilly hatte kaum eine längere!
Aus all diesen empörten und traurig zornigen Gedanken riß mich Guste, indem sie ihren Arm energisch in den meinen schob.
»Du, sag mal, bist du schläfrig, daß du gar nicht den Mund aufmachst?«
»Nein, es paßt mir nur nicht,« sagte ich, recht mit Bedacht ungezogen und hochfahrend.
Sie sollte nur sehen, daß ich nicht so ohne weiteres mit mir herumfahren und über mich bestimmen ließ, wie es diesen Leuten paßte.
Aber wie ich es gesagt hatte, schämte ich mich doch schon. Guste zog ihren Arm hastig aus dem meinen und sah mich erschreckt an.
»Du, das ist aber nicht hübsch von dir – für so habe ich dich nicht gehalten! Das nennt Muschchen ›maulen‹, und die strengsten Strafen, die ich je bekommen habe, sind mir dafür diktiert. Muttchen sagt, Maulen wäre eine Hinterlistigkeit, ein heimlicher, versteckter Groll, und ein ehrlicher, liebenswürdiger Mensch würde lieber mal heftig und sagte seinen Zorn gerade heraus, als daß er ihn still nergelnd nachhaltend mit sich herumtrüge. Nein, das will ich dir nur sagen, dann wird es mit unsrer Freundschaft nichts, wenn du maulen willst.«
Jedes ihrer Worte traf mich wie ein Schlag. Sie hatte ganz recht, genau dasselbe sagte Mama auch. Ich hatte mich eben scheußlich benommen, und ich schämte mich bis in den tiefsten Winkel meiner Seele. Und da ich nichts Besseres zu thun wußte, brach ich in heftiges Schluchzen aus, dazwischen verzweifelt stammelnd:
»Ach, ich habe es ja nicht so gemeint!«
Guste besaß ein Herz von Gold, damals erfuhr ich es zum erstenmal, böse sein konnte sie nie. Sie sagte ihre Meinung gerade heraus und dann war sie mit jedem Groll fertig. So drückte sie mich jetzt auch zärtlich an sich und versuchte mich zu beruhigen.
»Aber dann weine doch nicht, dann ist ja alles gut! Du bist mal grob gewesen und nun bereust du es, damit ist ja alles abgemacht. Gott, wie oft sind Gretel und ich grob miteinander, und dann fallen wir uns wieder um den Hals und versöhnen uns. Nein, das macht gar nichts. – Sei nur nicht bös, daß ich dir gleich so kurz meine Meinung gesagt hab', aber, siehst du, ehrlich müssen wir zu einander sein, sonst werden wir nie Freundinnen. Und nun schnaub' dir die Nase und weine nicht mehr, denn wenn Gretel das sieht, hast du es gleich mit ihr verdorben, die kann Thränensusen nicht leiden. Komm, jetzt sind wir erst richtig miteinander befreundet. Vor dem ersten Streit ist es nicht das Wahre. Wart mal, wir legen ein Wegblatt auf deine Augen, dann sieht dir nach einer Minute kein Mensch mehr an, daß du eine Wassermüllerin warst. So, nun gieb mir einen Kuß und dann haben wir uns wieder furchtbar lieb!«
Ja, ich hatte sie jetzt auch furchtbar lieb, und ich will nur gleich sagen, daß mein Gefühl für sie nie wieder rückwärts gegangen ist, sondern seit jener Stunde, in der sie mir erst so kräftig ihre Meinung sagte und dann mich so liebevoll tröstete, unsre Freundschaft wirklich in Kraft trat und eine feste und treue geblieben ist bis zum heutigen Tage.
Mitten in die Rührung dieses ersten großen Freundschafts- und Versöhnungsfestes klang auf einmal Hundegebell, Stampfen und Laufen, Knistern und Brechen von Zweigen und Gestrüpp und indem Guste mich hastig losließ und ausrief: »Das ist Gretel!« brach auch schon ein mächtiger Bernhardiner, anscheinend der Zwillingsbruder von Mentor, aus dem Gebüsch, und hinter ihm erschien die Gestalt einer jungen Walküre, mit rötlich schimmerndem Goldhaar, das ihr in krauser, mächtiger Fülle über den Rücken fiel und dessen widerspenstige, flimmernde Löckchen ein Gesicht voll blühender Farbenpracht und kraftvoller Frische umrahmten.
Sie war mindestens einen Kopf größer wie ich und fast