»Trinken Sie keine Limonade! Sie bekommen die Cholera, liebes Fräulein. Ihre Mama hat Sie mir auf die Seele gebunden, ich kann es nicht zulassen, daß Sie sich den Magen verderben. Hier, wenn Sie Durst haben, etwas abgekochtes Wasser, wie Baby es trinkt, das schadet keinem Menschen etwas. Steigen Sie um Himmels willen nicht aus dem Coupé, der Zug geht gleich wieder ab. – Vorsichtig, vorsichtig, damit Sie sich nicht die Beine brechen! – O Gott, da kommt ein Gepäckwagen, lassen Sie sich nicht überfahren! Ihre Mama hat Sie mir anvertraut, ich muß über Sie wachen« – und so fort, – zum Rasendwerden!
Dazwischen, während der Fahrt, mußte ich Milchen, die Zweijährige, festhalten und bewachen, damit sie aus dem Fenster sehen konnte und beschäftigt war, sonst brüllte sie wie ein kleiner Löwe. Und Baby mußte ich auf und ab schaukeln und ihm etwas vorsingen, während die Mama das Milchfläschchen wärmte und Wäsche vorsuchte.
Das war meine erste selbständige Reise, von der ich mir einen halben Roman zusammengeträumt hatte! Na, ich danke, mein Landaufenthalt bei den Pächtersleuten fing mit einer hübschen Einleitung an!
Trotzdem, als meine Station nahte, wurde mir doch ganz angst und bange. Nun ging es erst wirklich in die Fremde. Die kleine Mama, Milchen und Baby waren noch Heimatsbeziehungen. Sie gefielen mir außerdem wirklich nicht so übel, nachdem ich erst einmal mit meinen Reiseillusionen abgeschlossen und mich entsagungsvoll als Kind und Kindermädchen etabliert hatte, und mir traten die Thränen in die Augen, als es nun ernsthaft an den Abschied ging.
Wie ich ausstieg, schrie Baby, als wenn es am Spieß stecke, Milchen purzelte beinahe aus dem Coupé; die kleine Mama winkte, nickte und erließ noch hinter mir, während der Schaffner schon die Wagenthür zuschlug, eine Flut guter Lehren und Verhaltungsmaßregeln, die sie alle meiner Mama schuldig zu sein behauptete, und ich kam bei dieser ganzen Abschiedsaufregung gar nicht dazu, mich auf dem kleinen Bahnsteig umzusehen.
Als ich endlich schweratmend so weit war, an meine neue Umgebung zu denken, standen neben mir eine stattliche, hübsche Dame und ein schlankes, hübsches, junges Mädchen, die mir von beiden Seiten lachend und herzlich die Hände entgegenstreckten.
»Du bist Adele Helmold, das sehe ich an der Ähnlichkeit mit deiner Mutter,« sagte die ältere Dame und drückte mich herzlich an sich, während das junge Mädchen mir flink und geschickt mein Handgepäck abnahm. »Willkommen, liebes Herz, hoffentlich wird es dir bei uns recht wohl sein und wir werden viel gute, frohe Stunden miteinander verleben!«
Das waren also die Pächtersleute, diese reizende Frau, die sich ganz neben allen Damen unsrer Bekanntschaft behaupten konnte, und dieses allerliebste, zierliche Mädchen, deren feines Näschen zehnmal aristokratischer in die Welt schaute wie Marie Luisens kräftig ausgebildete, breite Nase!
Nasen waren nämlich meine Schwäche. Ich hatte selbst leider eine richtige impertinente Stupsnase, und daher rangierten alle Leute, die nach dieser Seite hin von der Natur vollwertiger und hübscher bedacht waren wie ich, in meiner Achtung besonders hoch.
Und nun diese reizende Nase an einer Guste und Pächterstochter sitzend.
Ich war so verwirrt und benommen, daß ich auf all die Fragen und Reden der beiden mich Empfangenden nur mechanisch antwortete. Die Leute fielen ja aus meinem Programm! Denen gegenüber hatte ich weder Veranlassung noch Mut, geringschätzig und unliebenswürdig aufzutreten. Wie sollte ich mich nun benehmen?
Und dann geriet ich aus einem Erstaunen in das andre. Statt des Klapperwagens von uraltem Kaliber, den ich erwartet hatte, stand da ein reizender, eleganter Break mit einem Paar feuriger Pferde bespannt, die der livrierte Kutscher während der Aufladung meines Gepäcks und des Einsteigens nur mühsam ruhig und gefügig hielt.
Dann rollten wir auf schattiger Chaussee flott dahin und neben mir plauderte Tante Regine, wie ich sie gleich nennen mußte, liebevoll und herzlich von meiner Mama, die ihre beste Freundin gewesen, und Guste nickte mir lächelnd zu und sagte: »Wir freuen uns so auf dich! Nun sind wir ein Kleeblatt, das Gretel, du und ich, und nun wird's noch lustiger wie bisher! Du sollst mal sehen, Gretel wird dir furchtbar gefallen! Ein toller Strick, nicht, Muschchen? Aber gut und reizend, nicht, Muschchen?«
Ich saß immer wie ein Ölgötze dabei, denn ich konnte mich noch gar nicht in die überraschenden Verhältnisse finden, aber das Herz wurde mir mit jeder Minute leichter und froher. Der greuliche Frosch fing schon an, menschlich zu blicken, wenn er auch noch lange nicht so weit war, um mir als prächtiger Königssohn zu erscheinen.
Von der Chaussee waren wir auf sandigen Landweg gebogen. Rings um uns wogende Kornfelder, grüne Kartoffelebenen und duftige Wiesen, in der Ferne blauschimmernder Wald und herüberblitzendes Wasser.
»Da wo der Wald beginnt und der See herüberglitzert, liegt unser Haus,« plauderte Guste. »Bildschön, sage ich dir! Es wird dir schon gefallen. Es giebt auf der Welt nichts Schöneres, nicht Muschchen?«
»Ja, Mausi, das sagst du wohl, weil du nichts andres kennst,« lächelte die Mutter, »aber Delia, das feine, kleine Stadtfräulein, wird vielleicht andre Ansichten haben.«
»Nein, Muschchen, sie soll es nur erst mal sehen, dann wird sie die staubige, enge Stadt schnell vergessen. Da, sieh mal, hinter dem Wald, dort in der Lücke, wo die kleine Kirchturmspitze auftaucht, da liegt das Schloß und das Dorf. Nur eine Viertelstunde durch den Wald zu gehen, dann bin ich im Schloß und in der Pfarre. Das lernst du alles kennen, denn beim Onkel Pfarrer haben wir unsre Schulstunden. Bisher nur Gretel und ich, aber nun kommst du auch noch dazu. Das wird jetzt ein Spaß! Freust du dich auch, – ja?«
Ich nickte mit dem Kopfe. Vorläufig wußte ich zwar noch nicht recht, weshalb ich mich auf Schulstunden in einem Pfarrhaus und auf ein unbekanntes kleines Etwas, das Gretel hieß, freuen sollte; aber Guste sah mich so herzig und auffordernd an, daß ich gar nicht anders konnte, als gleichfalls freundlich und zuvorkommend sein.
Allmählich kamen wir dem Walde näher, und bei einer Biegung des Wegs lag auf einmal Wald, See und das einstöckige, langgestreckte und mit wildem Wein umrankte Wohnhaus vor uns.
»Ist das nicht entzückend?« fragte Guste mit leuchtenden Augen und schlug mit der kleinen Faust auf mein Knie. »Siehst du, dahinter liegen die Scheunen und Ställe, die sind ja furchtbar interessant, wenn sie auch nicht so groß und weitläufig sind, wie beim Schloß. Na, überhaupt, das Schloß ist ja viel großartiger wie unser Haus, aber ich mag unsres doch lieber, nicht, Muschchen?«
»Sei nur still, Plaudertasche, du verwirrst die arme Delia mit deinem Redeschwall, die kann doch nicht alles auf einmal sehen und verstehen. Nun, da sind wir daheim, Kind, Vater erwartet uns schon auf der Terrasse, und die Hunde sind alle aus Rand und Band. Ängstige dich nicht, sie thun dir nichts, es ist nur Spielerei.«
Ich wagte mich aber doch nicht aus dem Wagen. Vier kläffende Köter standen davor, groß und klein, und sprangen und bellten und fletschten die Zähne, als wenn sie mich alle vier verschlingen wollten.
An so etwas war ich Stadtkind doch nicht gewöhnt. Ich kam mir vor, wie den Wüstentieren preisgegeben. Nein, ich stieg nicht aus dem Wagen!
Da faßte mich der Hausherr mit kräftigen Armen, hob mich in die Höhe und trug mich an Frau und Tochter vorüber ins Haus. Vorsichtig setzte er mich in der Halle nieder.
»Solch leichtes Vögelchen kann man noch in den Käfig tragen,« sagte er lächelnd. »Na, Frauchen, da hast du ein reiches Feld der Fürsorge und Pflege. Die kleine Spitzmaus wird viel Futter brauchen, bis sie das Gewicht der Guste und des Gretel hat!«
Sie lachten alle, und ich sah beschämt zu Guste hinüber. Wirklich, sie war nicht nur ein gutes Stück größer, sondern auch viel breiter und kräftiger wie ich. Dabei sah sie doch zierlich aus, und