Ich sollte nicht ganz recht behalten – es dauerte einige Zeit länger. Mittlerweile schreiben wir das Jahr 2019 und vielleicht kann man sogar von einem regelrechten Faszienhype der letzten Jahre sprechen. Niemand hat wohl damit gerechnet, dass dieses „neue Thema“ so viel Aufmerksamkeit erregt. Viele Zeitschriften berichten über das „Training für die Faszien“, es wird in den Fitnessstudios und Sportvereinen gerollt und gefedert. Bücher und Videos überschwemmen den Markt, während ich an diesem schreibe.
Doch wie heißt es so schön: „Gut Ding will Weile haben“, und je länger es mit der Fertigstellung dieser Lektüre dauert, desto mehr neue Forschungserkenntnisse und vor allem praktische Erfahrungen – auf die es in erster Linie bei einem Bewegungsprogramm ankommt – kann ich einfließen lassen.
An dieser Stelle ein großes DANKESCHÖN an meine dankbaren Teilnehmer, die sich gerne auf neue Bewegungen einlassen und diese gemeinsam mit mir reflektieren.
1.2Ein Rückblick – Osteopathie und Rolfing
Wir gehen zurück in das letzte Jahrhundert, in dem sich Manualtherapeuten wie Andrew Taylor Still (1828-1917), der Begründer der Osteopathie, und Ida P. Rolf (1896-1979), die Begründerin des Rolfings, schon mit dem Thema Bindegewebe und dessen Einfluss auf unseren Organismus beschäftigten.
Die Osteopathie
In der Osteopathie versucht der Therapeut, über verschiedene manuelle Techniken, sanfte Manipulationen und Impulse, unserem Organismus die Möglichkeit zur Selbstheilung und Selbstregulation zu geben.
Hier unterscheiden wir: die myofasziale (myo = Muskel) Osteopathie mit ihren Position-Release- und Faszientechniken, bei der der Körper in schmerzfreie Positionen gebracht wird, um darüber die Verspannungen und Blockaden zu beseitigen und über langsame, in die Tiefe gehende Druck- und Schiebetechniken das verklebte Bindegewebe zu lösen. Bei der viszeralen Osteopathie werden die bindegewebigen Schichten der inneren Organe behandelt und bei der craniosakralen Osteopathie werden über den Liquor, die zerebrale (= Gehirn) Flüssigkeit, Blockaden gelöst.
Das Rolfing
Ursprünglich wurde das Rolfing strukturelle Integration genannt. Während ihres Yogaunterrichts unterstützte Ida P. Rolf ihre Teilnehmer gerne taktil und bemerkte bei einigen Teilnehmern verhärtete und verklebte Muskulatur. Sie legte daraufhin ihre Hände auf diese verspannten, verbackenen und verklebten Körperstellen und nahm durch gezielten Druck Einfluss auf die bindegewebigen Schichten. Dabei stellte sie fest, dass die Behandlung des Bindegewebes Einfluss auf die muskuläre Spannung hat – der Muskel sich im Anschluss deutlich entspannter anfühlte – und Muskulatur und Bindegewebe wohl eine Einheit bilden muss.
Bemerkung
Fast jeder Patient hat aufgrund von Rückenschmerzen schon mal eine Bindegewebsmassage von seinem Physiotherapeuten erhalten oder von diesem gehört, dass sein Gewebe „verbacken“ ist und gelöst werden muss, was in der Regel dann etwas schmerzhaft war.
1.3Im Hier und Jetzt
Als 2007 die Fachwelt, bestehend aus Faszienforschern, Biologen, Neurologen, Physiotherapeuten, Bewegungstherapeuten und Sportwissenschaftlern, zum ersten Faszienkongress in Boston zusammenkam, ahnte wohl keiner, welcher Hype um ein nicht gerade neues Thema entstehen würde.
Jeder Chirurg durchtrennt bei Operationen die faszialen Schichten des Körpers, um an das Operationsgebiet zu kommen. Im Anschluss vernäht er das Gewebe wieder vorsichtig, wohl wissend um die Auswirkungen von narbigen Strukturen auf unseren Körper. Wurde früher das Bindegewebe als Verpackungsmaterial in der Pathologie einfach wegseziert, findet es heute die Beachtung, die Manualtherapeuten und Heilpraktiker diesem Gewebe schon seit Jahrzehnten schenken.
Auch bei den Schulmedizinern erfährt es mittlerweile die Beachtung, die es verdient, denn mit unseren heutigen Technologien, wie der Ultraschallelastografie, können Verklebungen und Verhärtungen der Faszien bildlich und lebendig dargestellt werden. Es kann festgestellt werden, ob der Schmerz faszial oder muskulär bedingt ist und so können die entsprechenden Therapien eingeleitet werden.
Dr. Robert Schleip, Faszienforscher und Leiter des Fascia Research Projects am Institut für Neurophysiologie der Universität Ulm, erforscht seit einigen Jahren bei uns in Deutschland unser Fasziensystem und wir können dankbar sein, dass es ihn gibt, denn er bereichert mit seinen neuen Erkenntnissen nicht nur die Fachwelt. Durch seine klare, ruhige und begeisternde Art vermittelt er auch dem Laien leicht und verständlich das Thema Faszien. Die Faszienforschung breitet sich immer weiter aus, sodass mittlerweile auch an den Universitäten Chemnitz und Frankfurt am Main in diesem Bereich geforscht wird.
Im Herbst 2015 fand in Washington D.C. der vierte Faszienkongress statt, bei dem auch Dr. Robert Schleip anwesend war. In einem Webinar im Februar 2016 teilte er uns Faszientrainern die neuesten Forschungsergebnisse mit, die ich mit Begeisterung aufnahm und hier mit einfließen lasse. Denn dieses faszinierende Gewebe bringt immer neue wissenschaftliche Erkenntnisse hervor und zeigt uns, dass unser bisheriges Wissen, in Theorie und Praxis, noch einige Lücken aufweist. Ich bin gespannt darauf, was die Wissenschaft uns in nächster Zeit noch so zu bieten hat, denn hier gibt es mit Sicherheit noch viel zu erforschen.
Ein weiterer Kongress im November 2015 in Boston an der Harvard Medical School, an dem Dr. Robert Schleip ebenfalls teilgenommen hat, befasste sich mit Onkologie, Akupunktur und Faszien und war aufgrund dieser Zusammensetzung für mich besonders interessant.
Doch nun habe ich meine Leser lange genug auf die Folter gespannt, ich sehe es schon fast vor mir, wie in den Köpfen die Frage aufkommt: „Was sind denn eigentlich Faszien?“
Hier folgen hoffentlich verständlich die Antworten.
In meinem ersten Faszienseminar bei Dr. Robert Schleip und seiner Frau Divo Müller bekamen wir Teilnehmer eine Orange und ein Messer in die Hand gedrückt und schauten uns etwas irritiert an. Doch mit der Anweisung, diese Orange nun sorgfältig von ihrer äußeren Haut zu befreien und die großen und kleinen Fruchtschnitzel genauer und aus einer anderen Perspektive zu betrachten, wurde gleich zu Beginn des Seminars der Zusammenhang und Zusammenhalt unseres Fasziennetzwerks deutlich.
Bemerkung
Nehmen Sie sich ruhig einmal eine Orange, betrachten Sie sie und stellen Sie sich ihre äußere Schale als unsere Hautoberfläche vor. Entfernen Sie nun vorsichtig die Schale, treffen Sie auf eine etwas dickere weiße Schicht, die unserem Unterhautfettgewebe entspricht. Entfernen Sie auch diese, kommen die großen Fruchtschnitzel hervor, die von einer festeren, leicht durchsichtigen Haut umgeben sind.
Diese Haut entspricht der Fascia superficialis – die große, bindegewebige Hülle, die unseren Körper – ähnlich wie ein Taucheranzug – umhüllt und ihm seine Form und seinen Halt gibt. Die einzelnen, größeren Septen entsprechen den Faszien, die jeden Muskel und jedes Organ umgeben und diese von der Umgebung abgrenzen.
Entfernen Sie vorsichtig die festere Haut eines größeren Fruchtschnitzels, treffen Sie auf die vielen kleinen, mit süßer Flüssigkeit gefüllten Schnitzelchen, die wiederum durch noch dünnere Häutchen voneinander getrennt sind, wie die immer kleiner werdenden Muskelfasern unseres Körpers.
Halbieren Sie eine Orange, erkennen Sie in der Mitte den weißen, festeren Strunk, der unseren Knochen entspricht.
Sie können also viele Parallelen zu unserem menschlichen Organismus erkennen und sich nun besser vorstellen, wie alles miteinander vernetzt und verwoben ist.
Lassen