Ich, das Original – du, die Fälschung
Kein Stern leuchtet, ohne zu verglühen
Das, wonach du suchst, sucht eigentlich nach dir
PROLOG: AUTOR DES EIGENEN LEBENS
Der Berg Kailash in der tibetischen Hochebene ist Pilgerort für verschiedene Religionen. Auf seinem mit Firnschnee bedeckten, alles überragenden Gipfel wohnt der Überlieferung zufolge Gott Shiva. Er verbringt einen Großteil seiner Zeit in der Meditation und mit asketischen Übungen, und so verwundert es nicht, dass seine Gattin Parvati ständig friert und sich langweilt.
An einem Tag konnte sie es kaum aushalten und drängte ihren Gatten: »Erzähl mir doch bitte eine spannende Geschichte.«
»Aber gerne, wenn du es dir wünschst«, antwortete Shiva.
»Aber es soll eine ganz besondere Geschichte sein, die nur für mich bestimmt ist. Eine vollkommen neue, die noch keiner auf der Welt je gehört hat«, forderte sie.
Shiva nickte und fing zu erzählen an. Seine Geschichte war tatsächlich ungemein spannend und bedeutungsvoll. Parvati war begeistert, und kaum hatte ihr Gatte sie zu Ende erzählt, bat sie ihn um eine weitere Geschichte.
Shiva erzählte ihr also noch eine Geschichte, und noch eine und noch eine, denn Parvati war unersättlich, und er hörte erst auf, als ihr die Lider schwer wurden und sie endlich einschlief.
Parvati aber war nicht die Einzige, die ihm zugehört hatte. Einer von Shivas Dienern, der gerade eine Nachricht hatte überbringen wollen, war an der Tür stehen geblieben. Die erste Geschichte hatte ihn so sehr in den Bann gezogen, dass er der Versuchung nicht hatte widerstehen können, weiter zu lauschen. Das Ohr fest an die Tür gepresst, hörte er sie alle mit an.
Danach eilte er nach Hause, und die ganze Nacht hindurch gab er seiner Frau all die interessanten Geschichten weiter und tat so, als habe er sie alle selbst ersonnen.
Die Frau des Dieners wiederum stand in Parvatis Diensten. Am nächsten Morgen, als sie ihrer Herrin das Haar kämmte, wollte sie dieser eine Freude machen, und so begann sie, ihr eine der Geschichten zu erzählen, die sie in der Nacht zuvor von ihrem Mann gehört hatte.
Kaum hatte sie die ersten Sätze gesprochen, da sprang Parvati auf und eilte wutentbrannt zu Shiva: »Hattest du mir nicht versprochen, mir Geschichten zu erzählen, die noch keiner auf der Welt je gehört hat?«
»Ja, das habe ich dir versprochen, und mein Versprechen habe ich auch gehalten«, gab Shiva erschrocken zurück.
»Wieso kennt dann selbst meine Dienerin sie?«
Auf der Stelle rief Shiva die Frau zu sich und stellte sie zur Rede: »Von wem hast du diese Geschichten gehört?«
»Von meinem Mann«, brachte diese stotternd hervor.
Sogleich wurde ihr Mann herbeizitiert, und er gestand mit zitternden Knien: »Tatsächlich hatte ich gestern Nacht eine Nachricht an Euch zu überbringen, und so kam es, dass ich vor der Tür stand und Euch erzählen hörte. Es war auf keinen Fall meine Absicht zu lauschen. Die erste Geschichte war so unglaublich interessant, dass ich nicht anders konnte, als mir auch die anderen anzuhören. Ich konnte mich einfach nicht losreißen und musste sie bis zum Ende hören.«
Shiva war etwas besänftigt, doch er befahl seinem Diener: »Wenn das so ist, sollst du vom Berg Kailash hinunter in die Welt zu den Menschen gehen und jedem einzelnen die Geschichten erzählen, die du gehört hast. Und dass es dir ja nicht in den Sinn kommt, je zu diesem Berg zurückzukehren!«
Der Diener wurde also aus dem Tempel hoch oben im Himalaya verbannt und wandert seither durch die Welt, um den Menschen seine Geschichten zu erzählen.
In meinen Augen sind Schriftsteller Menschen, die das Schicksal von Shivas Diener teilen. Sie sind Geschichtenübermittler, die ständig Neues und Interessantes erzählen müssen – voll von tiefem Sinn und dazu angetan, den Weg zur Erleuchtung zu weisen. Und sie müssen dafür sorgen, dass ihre Leser nach der ersten auch die zweite Geschichte erfahren wollen.
Jeder von uns ist Autor seines eigenen Lebens. Nur wir selbst können wissen, welche Geschichte unser Leben gerade schreibt, welchen Sinn sie macht und ob sie spannend genug ist, um die nächste Seite aufzuschlagen.
Nach dem Essayband Die Vögel schauen nicht zurück, wenn sie fliegen lege ich nun dieses neue Buch vor. Mögen Sie an der Lektüre Freude haben!
SHIVA RYU
1
Bauen wir auf Sicherheit und Gewissheit, haben wir uns den falschen Planeten ausgesucht. In dem Moment, in dem wir uns an Sicherheiten klammern, stößt uns das Leben eine Klippe hinab. Reißt uns eine Woge des Schicksals zu Boden, ist es an der Zeit, ein neues Leben anzufangen. Verlust und Abschied haben immer einen Sinn. Gott schreibt mit geschwungener Schrift eine gerade Botschaft.
DER NARR, DER SICH IN DEN REGEN STELLT
Ich war im letzten Semester meines Studiums, als ein Freund mir von einer sehr günstigen Unterkunft in der Siedlung einer Glaubensgemeinde am Rand der Provinz Gyeonggi erzählte. Ich mietete sie unbesehen. Es war eine sehr kleine Einzimmerwohnung in einem heruntergekommenen Reihenhaus, aber die Sonne schien angenehm herein, und ich konnte die Tür abschließen und für mich allein sein. Zudem gab es unweit von dort eine Allee, die zu einem Fluss hinunterführte, was für mich als Literaturstudenten wie ein Geschenk des Himmels war. Nachts schrieb ich Gedichte und untertags unternahm ich Spaziergänge in die Umgebung, statt die Vorlesungen an der Uni zu besuchen.
Mein Glück war leider nicht von Dauer. Bei den Nachbarn erregte ich Misstrauen. Für sie war ich ein Fremder mit langem Haar, der selbst im Sommer in einen schwarzen Mantel gehüllt (in der Wohnung war es kalt) durch ihre geheiligten Gefilde lief und dabei wie ein Geisteskranker vor sich hin murmelte (ich rezitierte Gedichte). Eines frühen Morgens schließlich statteten mir mehrere Leute ohne jegliche Vorankündigung einen Besuch ab. Sie traten ein, ohne sich die Schuhe auszuziehen, als ob meine Wohnung weder heilig noch unantastbar wäre, und forderten mich auf, auf der Stelle aus der Siedlung zu verschwinden.
Ich erklärte ihnen höflich, dass ich die Miete für einige Monate im Voraus bezahlt habe und daher das Recht zu bleiben hätte. Beinahe flehend fügte ich hinzu, dass ich möglichst lange hier wohnen bleiben wolle, weil mir die Gegend unbeschreiblich gut gefalle, und ich gestand, dass ich Dichter sei. Letzteres verschlimmerte die Lage ungemein. Aufgebracht, wie sie waren, verstanden meine Besucher nicht »Shiin« (Koreanisch für »Dichter«), sondern »Shin« (»Gott«). »Das ist der Teufel!«, schrien sie daraufhin. »Verschwinde von hier! Sofort!« Eine Frau deutete sogar mit dem Finger gen Himmel und schrie, ich solle den Zorn Gottes fürchten.
Das Wort Teufel traf mich wie ein Dolch ins Herz. Ich hatte während meines gesamten Studiums kaum mehr als ein paar schwer verständliche Gedichte zu Papier gebracht. Und nun musste ich die Wohnung verlassen, ohne meine im Voraus bezahlte Miete zurückzubekommen – für andere womöglich ein Taschengeld, mich aber kostete es fast mein gesamtes Vermögen. Mit verschränkten Armen standen die Leute da und ließen mich nicht aus den Augen, bis ich durch das Tor an der Einfahrt zur Siedlung verschwunden war. Sie sahen nicht mich, sie sahen den Fremden, der uneingeladen