Kintsugi. Andrea Löhndorf. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andrea Löhndorf
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783958032569
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und wir müssen ihn ganz bewusst einnehmen. Im Tai-Chi Chuan schließt man eine Bewegungsform ab, indem man sich ruhig im Stehen sammelt und bewusst die Art des Sehens verändert: Man lässt jeden Fokus los und öffnet seinen Blick weich für alles, was da ist, ohne irgendetwas besonders in Augenschein zu nehmen. Nach etwa einer Minute kehrt man zum normalen Sehen zurück. So in etwa stelle ich mir vor, bewusst seine Perspektive zu verändern. Wenn wir mit einer schwierigen Situation konfrontiert sind, tendieren wir dazu, unseren Fokus ständig darauf zu richten: Wenn wir einkaufen, denken wir an unser Problem; wenn wir uns mit Freunden treffen, sprechen wir über unser Problem; wenn wir spazieren gehen, nutzen wir die Gelegenheit, unser Problem noch einmal ausführlich von allen Seiten zu betrachten …

      Indem wir unsere Aufmerksamkeit allein auf die schwierige Situation richten, lassen wir zu, dass sie unser ganzes Erleben ausfüllt. Um wieder Kraft zu gewinnen, müssen wir uns Raum geben für alles, was noch da ist und was uns nährt. Denn da ist niemals nur das Problem, da sind auch das neue Projekt, auf das wir gespannt sind, die Einladung von Freunden, über die wir uns freuen, die unerwartete Anerkennung, die uns gerade zuteilwurde. Indem wir unsere Perspektive erweitern und die schwierige Situation als Teil eines größeren Bildes sehen, der von all den positiven Dingen in unserem Leben eingerahmt wird, lösen wir das Problem zwar nicht, doch wir entspannen uns und sind leichter in der Lage, es zu akzeptieren. Und Akzeptieren ist das erste wichtige Werkzeug in unserer persönlichen Kintsugi-Werkstatt. Jeder Coach weiß, dass Änderungen nur möglich sind, wenn Schwierigkeiten akzeptiert worden sind. Andernfalls bleiben wir gefangen in unserem inneren Widerstand.

      Akzeptieren, was ist

      Vor vielen Jahren erkrankte eine Freundin an Krebs. Die Nachricht erschütterte mich tief: Wie konnte diese bösartige Krankheit ausgerechnet einen so positiven, einfühlsamen und hilfsbereiten Menschen wie sie treffen? Als wir uns das erste Mal nach der Diagnose trafen und ich noch hilflos nach Worten rang, um mein Mitgefühl auszudrücken und irgendwie Ermutigung und Hoffnung zu vermitteln, nahm sie mir den Wind aus den Segeln, indem sie sagte, dass sie sich die Frage »Warum gerade ich?« nie gestellt habe. Eher sei ihr die Frage in den Sinn gekommen: »Warum nicht ich?« Das hat mich damals sehr beeindruckt wie auch die Gefasstheit, mit der sie die Diagnose annehmen konnte.

      Der Unterschied zwischen den Fragen »Warum gerade ich?« (alternativ: »Warum immer ich?«) und »Warum nicht ich?« besteht darin, dass Letztere aus der offenen, weiten und liebevollen Perspektive der Akzeptanz gestellt wird. Ein Mensch, der eine solche Haltung einnimmt, sieht über das Ich hinaus und willigt vertrauensvoll ein in das Leben, wie es nun einmal ist: Es gibt uns nicht immer das, was wir uns wünschen, und fordert uns hin und wieder mit Geschehnissen heraus, auf die wir nicht im Traum gekommen wären. Und das gilt für jeden. Wenn es uns »erwischt«, haben wir häufig das Gefühl, als Einzige damit konfrontiert zu sein, denn wir alle meinen, Leute zu kennen, die dauerhaft das vollkommene Leben zu haben scheinen. Das ist jedoch eine schöne Illusion. Wie Wabi-Sabi lehrt: Nichts ist perfekt, und alles verändert sich immer. Wabi-Sabi zeigt aber auch – und in diesem Gedanken liegt viel Hoffnung: Nichts ist für immer abgeschlossen, und jede Geschichte geht weiter. Wie sich in einem dürren Zweig im Schnee schon das Frühlingsgrün verbirgt, so trägt jede Krise in sich schon den Samen für eine Weiterentwicklung, wie auch immer diese aussehen mag. Die Geschichte meiner Freundin ging in der Weise weiter, dass alle Behandlungen anschlugen und sie wieder vollständig gesund wurde.

      In drei Worten kann ich alles

      zusammenfassen, was ich über das Leben

      gelernt habe: Es geht weiter!

      ROBERT FROST

      Die Natur zeigt uns, wie das Wabi-Sabi-Prinzip in der Praxis wirkt, denn sie akzeptiert alles. Wenn Wasser auf ein Hindernis trifft, fließt es darum herum. Bäume stemmen sich nicht gegen den Wind, sondern sie lassen sich von ihm wiegen. Und genau das macht ihre Stärke aus. Es geht darum, mitzugehen mit dem, was ist, egal, ob die Situation angenehm oder unangenehm ist, und im Fluss des Lebens zu bleiben.

       Glück oder Unglück, wer weiß das schon

       In einem Dorf lebte ein Bauer, der als wohlhabend galt, weil er ein kräftiges Pferd hatte, das ihm beim Pflügen half. Eines Tages brach es aus seiner Koppel aus und lief davon. Die Nachbarn bedauerten den Bauern angesichts dieses Unglücks, doch der Bauer sagte: »Glück oder Unglück, wer weiß das schon.«

       Einige Tage später kehrte das Pferd zurück und brachte aus den Bergen zwei Wildpferde mit. Die Leute im Dorf riefen: »Welches Glück du doch hast«, doch der Bauer sagte: »Glück oder Unglück, wer weiß das schon.«

       Am nächsten Tag versuchte der Sohn des Bauern, eines der Wildpferde zu reiten. Es warf ihn ab, und er brach sich beide Beine. Die Nachbarn bekundeten ihr Mitgefühl, doch der Bauer sagte nur: »Glück oder Unglück, wer weiß das schon.«

       Es verging eine Woche, da wurden die Dorfbewohner eines Morgens von wildem Hufgetrappel aus dem Schlaf geschreckt. Soldaten des Herrschers waren gekommen, um jeden jungen Mann für den Krieg einzuziehen. Den Sohn des Bauern aber wollten sie wegen seiner gebrochenen Beine nicht haben. Und wieder kamen die Leute aus dem Dorf zum Bauern und gratulierten ihm zu seinem Glück, dass sein Sohn nicht in den Krieg ziehen müsse. Und was sagte der Bauer? »Glück oder Unglück, wer weiß das schon.«

      Akzeptieren hat keinen besonders guten Ruf in unserer heutigen Gesellschaft. Wir wollen verändern, optimieren, kämpfen und Berge versetzen. Mit Sprüchen wie »Du kannst alles schaffen, wenn du nur willst« halten wir uns und einander bei der Stange. Und tatsächlich sind die Fortschritte in Technologie und Wissenschaft seit Jahrzehnten so rasant, dass die Menschen in den meisten westlichen Ländern ein angenehmeres, bequemeres, gesünderes und sichereres Leben führen können als alle Generationen jemals zuvor. Und so müsste es doch auch jedem Einzelnen von uns gelingen können, das eigene Leben bis in die kleinsten Details zu kontrollieren und zu optimieren – so die Theorie, von der viele Menschen ausgehen. Doch sosehr wir uns auch anstrengen, bleibt unser Einfluss auf die Wechselfälle des Lebens begrenzt. Und je mehr wir uns bemühen, unser Leben zu kontrollieren, umso mehr leiden wir, wenn sich das, was geschieht, unserer Kontrolle entzieht. Wenn wir uns dem Lauf des Lebens widersetzen, investieren wir unsere kostbare Energie in den Widerstand statt ins Handeln und erschöpfen uns.

      Nur weil du das, was du akzeptieren musst,

      nicht akzeptieren willst, quälst du dich.

      KŌDŌ SAWAKI

      Akzeptieren wird deshalb zu Unrecht als Passivität, Aufgeben und Resignation verstanden. Es bedeutet einfach, den inneren Widerstand aufzugeben gegen das, was geschieht, und in sich Raum für ein Ja zu schaffen. Das setzt erst die Kräfte frei, die wir brauchen, um im Äußeren aktiv werden zu können und Dinge wirklich zu verändern. Selbst ein anfangs sehr kleines, leise zu uns selbst geäußertes »Ja« lässt uns effektiver handeln, als wenn wir im Widerstand verharren. Und das wiederum bedeutet: Wir können etwas akzeptieren – und danach immer noch Berge versetzen. Oder uns gegen Ungerechtigkeiten zur Wehr setzen. Oder die Scherben unseres bisherigen Lebens sorgfältig Stück für Stück zusammensetzen und mit Goldpuder zu einem neuen Kunstwerk veredeln.

      Geschichten von Menschen, die Schicksalsschläge akzeptiert und positive Wege gefunden haben, sie produktiv in ihr Handeln umzusetzen, faszinieren uns nicht ohne Grund. Solche Kintsugi-Lebensläufe zeigen uns, was trotz widriger Umstände möglich ist. Einer von ihnen ist Nelson Mandela. Er zählt zu den großen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, und jedes Kind kennt die Geschichte des Freiheitskämpfers, der 27 Jahre inhaftiert war und als Präsident die Abschaffung der Apartheid in Südafrika bewirkte. Wenige jedoch haben von dem Garten gehört, den Nelson Mandela im Hof des gefürchteten Gefängnisses von Robben Island anlegte. Während die anderen Insassen Spiele spielten, widmete sich Mandela dem schmalen Streifen Grün und zog Früchte und Gemüse, die er mit den anderen teilte. Im Internet lassen sich einige Fotos finden; die Gefängnismauer ist zu grau und hoch und feindselig, als dass die Bilder den Geist von Wabi-Sabi widerspiegeln würden, doch vermitteln