Ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, Geduld zu haben
gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen,
die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind … Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht
leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen
Tages in die Antwort hinein.
RAINER MARIA RILKE
Denn wenn die Dinge schon so sind, wie wir sie vorfinden – ob uns das gefällt oder nicht –, dann können wir auch den Versuch wagen, das Beste aus ihnen zu machen und sie bewusst zu gestalten. Kintsugi legt die Idee nahe, dass man mit dem Material seines Lebens umgehen kann wie ein Künstler. Françoise Gilot, Ex-Frau von Pablo Picasso und ebenfalls Malerin, schildert in ihrer Biografie Die Frau, die Nein sagt, wie sie damit umgeht, wenn sie sich vermalt hat: Wenn sie einen falschen Strich zieht oder Farbe zu dick aufgetragen hat, müssen diese Teil einer neuen Bildgestaltung werden. Sie werden in das Gemälde integriert und erhalten dabei eine neue Bedeutung. Die Malerin zieht Parallelen zum Leben: »Was gelebt wurde, bleibt und kann nicht weggewaschen werden. Es ist für immer ein Teil von dir, aber am Ende zählt das Ganze, das du daraus machst. Das Leben als Gesamtkunstwerk.«
Ich möchte Sie in diesem Buch einladen auf eine Reise tief hinein in die japanischen Lebenslehren, um zu erforschen, was Kintsugi bedeuten kann. Immer wieder werden wir dabei auch Ausflüge in die westliche Psychologie, Philosophie und Wissenschaft machen, die von jeher nach dem Gold des Kintsugi gesucht haben und manchmal eine Art »Übersetzung« der für uns zunächst doch sehr fremd anmutenden Lebenshaltungen bieten. Die Japaner haben die eigentümliche Neigung, gerade wenn es um die ganz wichtigen Themen der Lebenskunst geht, in Poesie, Symbolen oder Bildern zu sprechen, statt viele Worte zu machen. Diese Vorliebe ist selbst ein Spiegel ihrer Lebenshaltung: Das Eigentliche kann nicht in Worten ausgedrückt, sondern nur erfahren werden. Ich werde mich bemühen, den Zauber des Kintsugi nicht zu zerstören, wenn ich versuche, es auf eher westliche Art zu erklären und praktikable, anwendbare Handlungsschritte abzuleiten. Doch da die Kernbotschaft des Kintsugi darin besteht, dass in allem Unvollkommenen Schönheit gefunden werden kann, hoffe ich, dass Sie auch aus einem nicht perfekten Buch ein wenig Gold für Ihr eigenes Leben mitnehmen werden.
Jede dieser Lebenslehren – Wabi-Sabi, Zen, Ikigai, Kaizen, Yui Māru – hat zahlreiche, äußerst hilfreiche »Werkzeuge« im Angebot, die uns helfen, schwierige Zeiten nicht nur leichter durchzustehen, sondern im Sinne von Kintsugi positiv zu verwandeln. Es handelt sich dabei um heilsame Lebenshaltungen und geistige Herangehensweisen, die sich vielfach bewährt haben und deren Wirksamkeit zum Teil durch wissenschaftliche Studien belegt ist. Gemeinsam bilden sie die Grundausstattung für unsere ganz persönliche Kintsugi-Werkstatt, in der wir unser Leben »reparieren« und golden veredeln können.
Der Philosophie des Wabi-Sabi verdanken wir die ersten beiden Werkzeuge Akzeptieren und Selbstmitgefühl, die in schwierigen Zeiten für emotionale Stabilität und eine liebevolle, fürsorgliche Haltung uns selbst gegenüber sorgen. Aus der weiten, wunderbaren Welt des Zen stammen Achtsamkeit, Stille und Einfachheit, mit deren Hilfe wir unsere Gefühle beruhigen und Klarheit finden können, um Lösungen für unsere Probleme zu finden. Wenn wir uns mit der Vorstellung von Ikigai beschäftigen, suchen wir nach unserem ganz persönlichen Sinn beziehungsweise danach, wofür es sich zu leben lohnt, und das Konzept von Kaizen unterstützt uns, auf einem Weg der kleinen Schritte ins Handeln zu kommen. In Yui Māru schließlich geht es um Zugehörigkeit, um Gemeinschaft, Verbundenheit und ein heilsames Miteinander.
Die Auswahl, die hier getroffen wurde, ist naturgemäß persönlich, da Kintsugi in allererster Linie ein Bild, eine Metapher für einen Veränderungsprozess ist, die mit verschiedenen Inhalten gefüllt werden können. Jedoch ist die Auswahl alles andere als zufällig: Alle Werkzeuge zusammen bilden einen echten Survival-Kit in schwierigen Zeiten und werden zum Großteil von westlichen Krisenpsychologen empfohlen – auch wenn diese andere Begriffe verwenden. Was die vorliegende Kintsugi-Werkstatt von deren Empfehlungen jedoch unterscheidet, ist die enorme Kraft und Poesie des Bildes. So praktikabel und anwendbar »Methoden zur Krisenbewältigung« sein können, so viel motivierender wirken doch Bilder auf die Psyche.
Machen wir uns also jetzt auf die Reise ins Land der aufgehenden Sonne, um dort das Geheimnis von Kintsugi zu erforschen und unsere eigene kleine Reparaturwerkstatt einzurichten, wo wir unser Leben auf neue, goldene Weise gestalten können.
Wie ein phosphoreszierender Stein,
der im Dunkel glänzt, aber bei Tageshelle
jeglichen Reiz als Juwel verliert,
so gibt es ohne Schattenwirkung keine Schönheit.
TANIZAKI JUN’ICHIRŌ
Kintsugi wurzelt in der Philosophie des Wabi-Sabi, einer Anschauung, die urtypisch für Japan ist und den Kern des fernöstlichen Schönheitsideals bildet. Jedem Japaner ist sie vertraut, nach einer Deutung gefragt, wird er aber vermutlich in Andeutungen, Bildern und Metaphern sprechen, denn Wabi-Sabi ist eher im Bereich des Empfindens beheimatet als im Intellekt.
Wabi bedeutete ursprünglich »Alleinsein« und bezog sich auf etwas Schlichtes, Natürliches, sabi verwies auf die Flüchtigkeit des Seins. Im Lauf der Zeit verschmolzen wabi und sabi miteinander und waren irgendwann nicht mehr voneinander zu trennen; wer heute »wabi« sagt, meint ebenso »sabi« und umgekehrt. Die Botschaft lautet: Nichts kann für immer perfekt sein, alles befindet sich in einem fortwährenden Wandel. Der Wabi-Sabi-Ansatz in der Kunst beinhaltet deshalb bewusst die Unvollkommenheit; er bringt Dinge hervor, die schlicht und natürlich sind und wie die Natur Asymmetrien aufweisen können. Im »Zen der Dinge«, wie Wabi-Sabi häufig umschrieben wird, geht es nicht darum, die offenkundige Schönheit, sondern die verhüllte Anmut zu entdecken: in der knorrigen Kiefer, im leicht angerosteten Teekessel, in einem faltigen Gesicht, im klagenden Kreischen von Möwen. Ein alter Tempel inmitten eines schlichten Gartens, das Dach mit Moos überwachsen – das wäre ein Bild, das dem Prinzip des Wabi-Sabi entspricht.
Wie entsteht ein solches Schönheitsideal, das unserer westlichen, von altgriechischen Maßstäben geprägten Ästhetik so grundlegend widerspricht – und erst recht unserer heutigen superoptimierten Designwelt? Lassen Sie uns eine Reise ins alte Japan machen, in eine ferne zauberhafte Welt, in der Zen-Mönche und bedeutende Teemeister eine Lebenshaltung entwickelten, die bis heute nicht aufgehört hat, Menschen zu inspirieren.
Die Welt in einer Schale Tee
Die Wurzeln des Wabi-Sabi liegen im Zen-Buddhismus, der im 12. Jahrhundert von China nach Japan gelangte und hier im 16. Jahrhundert seine Blüte erlebte. Wabi-Sabi spiegelt das Leben der Mönche und ihre Grundsätze der Schlichtheit, Bescheidenheit und stillen Freude wider – ebenso wie ihr Bewusstsein der Vergänglichkeit aller Dinge. Da sie ein Leben in Armut führten, richteten sie ihr Bestreben