3. Was Erfahrung lehrt
All dies mag zwar vollkommen folgerichtig und einwandfrei erscheinen. Doch lauert unter der Oberfläche ein Problem. Um es als solches erkennen zu können, beginnen wir mit der Betrachtung einer interessanten Tatsache mit Bezug auf phänomenales Wissen, wie beispielsweise das Wissen, wie es sich anfühlt, Rot zu sehen. Die interessante Tatsache besteht in diesem Zusammenhang darin, dass diese Art von Wissen, also als Wissen, wie es sich anfühlt, (praktisch gesprochen) nur durch Erfahrung gewonnen werden kann.
Frank Jackson entwickelte ein berühmtes Gedankenexperiment, um dies zu verdeutlichen. Sein Beispiel präsentiert die schwarz-weiße Mary, eine brillante Neurowissenschaftlerin, die seit ihrer Geburt in einer farblosen Zelle eingeschlossen ist. Mary hat niemals eine Farbempfindung gehabt. Nun kennt sie zwar alle Tatsachen einer vollständigen Physik (und anderer Wissenschaften), einschließlich aller kausalen und relationalen Tatsachen und funktionalen Rollen, die sich aus der Kenntnis dieser Tatsachen ergeben, einschließlich aller wissenschaftlichen Fakten über Licht, der Reaktion des menschlichen Auges auf Licht mit Wellenlängen zwischen 600 und 800 Nanometern und aller relevanten Neurowissenschaft. Doch wenn sie ihr erstes Roterlebnis hat, lernt sie etwas Neues: Sie lernt, wie es sich anfühlt, Rot zu sehen.
Mary ist in einem Schwarz-Weiß-Zimmer eingesperrt, wird durch Schwarz-Weiß-Bücher und durch auf einem Schwarz-Weiß-Fernseher übertragene Vorlesungen gebildet. Auf diese Weise lernt sie alles, was es über die physikalische Beschaffenheit der Welt zu wissen gibt. […] Es scheint jedoch, dass Mary nicht alles weiß, was es zu wissen gibt. Denn wenn sie aus ihrem Schwarz-Weiß-Zimmer freigelassen wird oder wenn man ihr einen Farbfernseher gibt, wird sie lernen, wie es sich anfühlt, etwas Rotes zu sehen […]. (Jackson 1986, S. 291.)
Wie Jackson betont, macht Mary dann, wenn sie ihre Zelle zum ersten Mal verlässt, eine radikal neue Erfahrung: Sie erlebt zum ersten Mal Rot, und aufgrund dieser Erfahrung – und allein aufgrund dieser Erfahrung – weiß sie, wie es sich anfühlt, Rot zu sehen.
Aufgrund des Mangels in Marys Erfahrung vor dem Verlassen ihres Schwarz-Weiß-Zimmers fehlt ihr eine bestimmte Art von Wissen. Vielleicht ist dieses Wissen ein Wissen bezüglich einer physikalischen Tatsache. Vielleicht ist dieses Wissen mit einem Defizit an einer bestimmten Art von Fähigkeit oder eines Know-hows verbunden. Vielleicht bedeutet es, eine alte Tatsache auf neue Art zu wissen. Oder vielleicht weiß sie nach dem Verlassen ihres Zimmers eine neue Tatsache einer anderen Art.9 Nichts davon spielt hier eine Rolle.10 Die Lektion für uns besteht einfach darin, dass die auf Schwarz-Weiß eingeschränkte Mary sich in einer mangelhaften epistemischen Position befindet, bevor sie ihre Zelle verlässt. Solange sie nicht wirklich die Erfahrung des Rotsehens macht, kann sie nicht wissen, wie es sich anfühlt, Rot zu sehen.
Eine wichtige Eigenheit dieses Beispiels beruht auf der Tatsache, dass das Erlebnis einer Rotwahrnehmung vor dem Hintergrund ihrer Schwarz-Weiß-Erfahrungen für Mary einzigartig und streng abgegrenzt ist. Bevor sie das Zimmer verlässt, kann sie sich keine Vorstellung davon machen, um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie es sich für sie anfühlen wird, Rot zu sehen, weil sie von dem, was sie über ihre anderen Erfahrungen weiß, nicht auf das Wissen schließen kann, wie es sich anfühlt, Farben zu sehen. So, wie das Beispiel beschrieben ist, lässt sich also ihre frühere Erfahrung, bevor sie das Zimmer verlässt, nicht so übertragen, dass sie ihr Informationen darüber geben wird, wie es sich anfühlt, Rot zu sehen. Infolgedessen ist ihre Erfahrung, wenn sie ihr Zimmer verlässt und zum ersten Mal Rot sieht, epistemisch transformativ.
Schränken wir nun Marys epistemische Situation noch etwas mehr ein, als dies in Jacksons Gedankenexperiment der Fall ist. Bevor sie ihr Zimmer verlässt, weiß sie auch nicht, welche Gefühle und Gedanken sie als Folge dessen haben wird, Rot zu sehen, weil sie nicht weiß, wie es sich anfühlt, Rot zu sehen, oder wie es sich anfühlt, überhaupt irgendeine Art Farbe zu sehen.11 Und folglich weiß sie nicht, ob es ihre Lieblingsfarbe sein wird, ob es Spaß macht, Rot zu sehen, ob es erfreulich oder furchterregend oder sonst irgendwie sein wird, Rot zu sehen. Und selbst gesetzt den Fall, dass sie beispielsweise wissen könnte, dass sie den Anblick von Rot furchterregend finden würde, würde sie nicht wissen, wie phänomenologisch intensiv dieses Erlebnis sein würde.
Für unsere Zwecke bedeutet Marys mangelhafte epistemische Situation erstens, dass Mary auch nicht weiß, welche Gefühle, Überzeugungen, Wünsche und Dispositionen dadurch verursacht werden, wie es sich für sie anfühlt, Rot zu sehen, weil Mary nicht weiß, wie es sich phänomenal anfühlt, Rot zu sehen, bevor sie es tatsächlich sieht. Vielleicht wird sie Freude und Euphorie empfinden. Oder vielleicht wird sie Furcht und Verzweiflung empfinden. Und so weiter.
Zweitens, da sie nicht weiß, welche Gefühle, Überzeugungen, Wünsche und Dispositionen von ihrem Roterlebnis verursacht werden, weiß sie auch nicht, wie es sich anfühlen wird, die Menge an Gefühlen, Überzeugungen, Wünschen und Dispositionen zu haben, die von ihrem Roterlebnis verursacht werden, und zwar einfach aus dem Grund, weil sie keinen Anhaltspunkt darüber hat, was sie tatsächlich empfinden wird.
Drittens weiß sie nicht, wie es sich anfühlen wird, irgendeines der phänomenale-Röte-beinhaltenden Gefühle, Überzeugungen, Wünsche und Dispositionen zu haben. Selbst unter der Voraussetzung, dass sie irgendwie wissen könnte, dass sie beim Anblick von Rot Freude empfinden würde, weiß sie nicht, wie es sich anfühlen wird, Freude-zu-empfinden-während-man-Rot-sieht, bis sie die Erfahrung hat, Rot zu sehen. All dies sind verschiedene Weisen zu sagen, dass sie vor dem Verlassen ihrer Zelle nicht den Wert dessen wissen kann, wie es sich für sie anfühlen wird, Rot zu sehen.
Das bedeutet, dass Mary dann, wenn sie sich entscheidet, ihre Schwarz-Weiß-Zelle zu verlassen, und wenn sie damit sich dafür entscheidet, eine epistemisch transformative Erfahrung zu machen, mit einer tiefgründigen subjektiven Unvorhersagbarkeit der Zukunft konfrontiert ist. Sie kennt die Werte der relevanten phänomenalen Ergebnisse ihrer Entscheidung nicht und kann sie auch gar nicht kennen.
4. Die transformative Erfahrung, ein Kind zu haben
Eine Person, die vor der Wahl steht, ein Elternteil zu werden, bevor sie ein Kind bekommt, befindet sich in einer epistemischen Situation, die genau der von Mary im Schwarz-Weiß-Zimmer entspricht, bevor sie ihre Zelle verlässt. Genau wie Mary ist sie, epistemisch gesehen, benachteiligt, weil sie nicht weiß, wie es ist, ein eigenes Kind zu haben.
Warum ist sie epistemisch benachteiligt? Zumindest im Normalfall macht man dann, wenn man sein erstes Kind bekommt, eine einzigartig neue Erfahrung. Bevor eine Person zu einer Mutter oder einem Vater wird, hat sie nie den einzigartigen Zustand erlebt, ihr neugeborenes Kind zu sehen und zu berühren. Sie hat nie die volle Breitseite der äußerst intensiven Reihe von Überzeugungen, Gefühlen, körperlicher Erschöpfung und emotionaler Intensität erlebt, die das Austragen, die Geburt, das Vorzeigen und die Sorge um ihr ganz eigenes Kind begleitet, und weiß daher nicht, wie es sich anfühlt, diese Erlebnisse zu haben.
Da ein eigenes Kind zu haben, sich von jeder anderen menschlichen Erfahrung unterscheidet, weiß sie außerdem nicht nur nicht – bevor sie die Erfahrung gemacht hat, ihr neugeborenes Kind zu sehen und zu berühren – wie es sich anfühlt, ein Kind zu haben, sondern sie kann das auch gar nicht wissen.12 Wie die Erfahrung des erstmaligen Farbensehens ist die Erfahrung, ein Kind zu haben, nicht übertragbar. All das bedeutet, dass ein Kind zu haben epistemisch transformativ ist.
Nun ist ein Kind zu haben nicht nur eine radikal neue epistemische Erfahrung, sondern stellt für viele Menschen ein lebensveränderndes Erlebnis dar. Die Erfahrung mag also sowohl epistemisch transformativ als auch persönlich transformativ sein: Sie kann Ihre persönliche Phänomenologie