2. Entscheidungstheorie: ein normatives Modell
Wenn wir bei einer Handlung die Wahl haben, müssen wir eine Entscheidung treffen: Wir erwägen verschiedene Dinge, die wir tun könnten, und wählen dann eines von diesen aus, und die Entscheidungstheorie liefert die beste Darstellung solch rationaler Entscheidungsprozesse. Ideale Handelnde treffen unter idealen Umständen rationale Entscheidungen, indem sie in Übereinstimmung mit den Modellen einer idealisierten Entscheidungstheorie handeln. Um eine Entscheidung rational zu treffen, bestimmen wir zuerst die möglichen Ergebnisse jeder Handlung, die wir vollziehen könnten. Nachdem wir den Raum möglicher Ergebnisse festgelegt haben, bestimmen wir den Wert (oder Nutzen) jedes Ergebnisses und die Wahrscheinlichkeit dafür, dass das Ergebnis eintritt, unter der Voraussetzung, dass wir diese Handlung auch wirklich ausführen. Wir berechnen dann den Erwartungswert jedes Ergebnisses, indem wir den Wert des Ergebnisses mit seiner Wahrscheinlichkeit multiplizieren, und entscheiden uns für diejenige Handlung, deren Ergebnis oder Ergebnisse den höchsten Gesamterwartungswert haben.
Nun stimmen Entscheidungen realer Handelnder unter realen Umständen nicht mit diesem Standardmodell überein. Gewöhnliche Menschen sind unvollkommen in ihren Überlegungen; ihre Schlussfolgerungen stimmen nur bedingt mit denjenigen überein, die ein ideal rationales Wesen treffen würde, und wie sie den Wert von Ergebnissen festlegen, stimmt wahrscheinlich nur grob mit deren tatsächlichem Nutzen überein. Eine realistischere Variante eines entscheidungstheoretischen Ansatzes, also etwas, was ich als eine normative Entscheidungstheorie bezeichne, ist in der Lage, Normen für gewöhnliches, erfolgreiches Schlussfolgern zu erfassen. Wenn wir Näherungswerte für unsere Handlungsergebnisse sammeln und die richtigen entscheidungstheoretischen Regeln anwenden, können wir den gewöhnlichen Standard für rationale Entscheidungen erfüllen. Entscheidungen, die von gewöhnlichen Menschen getroffen werden, können rational sein, wenn sie mit den realistischen Standards übereinstimmen, die von einer normativen Entscheidungstheorie festgesetzt werden, wobei solche Standards ein gewisses Maß an Näherungen, Unwissenheit, Unbestimmtheit und falschen Überzeugungen berücksichtigen.7
Wenn wir uns zum Beispiel ein zukünftiges Ergebnis zu vergegenwärtigen versuchen, können wir eventuell nichts Besseres tun, als seinen angenäherten Erwartungswert herauszubekommen. Schließlich ist es für eine Person wahrscheinlich unmöglich, den Erwartungswert tatsächlich jedes Ergebnisses präzise zu berechnen. Und vielleicht kennen wir nicht einmal alle möglichen Ergebnisse. Doch wir können uns einer rationalen Entscheidung annähern, indem wir zwischen ungefähren Erwartungswerten der relevanten oder der wichtigsten Ergebnisse wählen. Eine normative Entscheidungstheorie beschreibt das Spektrum und die Verknüpfung von Regeln und Standards, mit denen Handelnde übereinstimmen müssen, damit ihre Entscheidungen im normativen Sinne rational sind. Somit liefert sie ein normatives Modell, mit dem wirkliche Handelnde übereinstimmen können, so dass ihre Entscheidungen nach unseren Kriterien rational sind.8 In diesem Aufsatz werde ich annehmen, dass wir den Standard für normative Rationalität erfüllen wollen, wenn wir die Entscheidung treffen, ein Kind zu bekommen oder nicht.
In jedem nicht-idealen Fall können Merkmale vorliegen, die die Situation komplizierter machen. Zum Beispiel weisen Ergebnisse manchmal die gleichen Erwartungswerte auf. Dann würde keine einzelne Handlung die einzige eindeutig rationale Wahl sein. Manchmal sind Erwartungswerte metaphysisch unbestimmt. Dann ist es metaphysisch unbestimmt, welche Handlung die rationale Wahl darstellt. Oder vielleicht können wir den Raum möglicher Ergebnisse nicht angemessen aufteilen. Und so weiter. Der Einfachheit halber nehme ich an, dass solche Merkmale im Szenario nicht vorhanden sind. Insbesondere nehme ich an, dass wir den Raum relevanter Möglichkeiten in eine Menge angemessen feinkörniger, sich gegenseitig ausschließender und erschöpfender Propositionen aufteilen können, die jedes relevante Ergebnis beschreiben.
Im Szenario bestehen die fraglichen Handlungen entweder darin, ein eigenes Kind zu haben oder kein eigenes Kind zu haben. Die Entscheidung ist die Wahl, entweder Kinder zu haben oder kinderlos zu bleiben. Die Ergebnisse jeder dieser Handlungen sind ihre Auswirkungen, die jeweils drastische emotionale, mentale und körperliche Folgen haben. Die dramatischen Auswirkungen folgen sowohl der Handlung, kein Kind zu haben, als auch der Handlung, ein Kind zu bekommen: Kein Kind zu haben bedeutet beispielsweise, dass man ganz andere Erlebnisse im Vergleich zu denen haben wird, die man haben würde, sollte man ein Kind haben. Und dies hat weitere Folgen, wie beispielsweise die Tatsache, dass man wesentlich geringere finanzielle Kosten für mindestens 18 Jahre nach dem Zeitpunkt hätte, an dem die Unterlassung, ein Kind zu bekommen, »eingetroffen« wäre.
Die Hauptsorge im Szenario liegt auf dem Wert des Ergebnisses »für die handelnde Person«. Darunter ist der Wert jenes Ergebnisses zu verstehen, das durch die handelnde Person hervorgebracht wird. Dabei liegt hier der Nachdruck auf dem Ergebnis, das die Perspektive oder den Gesichtspunkt der Handelnden involviert, d. h. auf dem subjektiven Wert dessen, wie es sich anfühlt, die Person zu sein, die diese Entscheidung getroffen hat. Insbesondere geht es der handelnden Person im Szenario um phänomenale Ergebnisse, die sich darauf beziehen, wie es für sie ist, ein eigenes Kind zu haben. Da das, wie es sich anfühlt, die handelnde Person zu sein, auch umfasst, wie es sich anfühlt, deren Überzeugungen, Wünsche, Gefühle, Dispositionen zu haben und dadurch Handlungen zu vollziehen, umfassen die relevanten Ergebnisse im Szenario, wie sich diese zusätzlichen Auswirkungen anfühlen und ihre zugehörigen Folgen als Teil dessen, wie es sich für sie anfühlt, ein eigenes Kind zu haben.
Wählt man zwischen Dafür oder Dagegen, vergleicht man die umfassenden Erwartungswerte der Ergebnisse jeder Handlung. Da es uns hier um gewöhnliche Entscheidungssituationen geht, verwenden wir ein normatives Modell, um unsere Wahl zu leiten, und berücksichtigen Annäherungen und Schätzungen anstelle vollkommener Präzision. Um eine rationale Entscheidung zu treffen, bestimmen Sie unserem normativen Modell zufolge den Wert jedes relevanten Ergebnisses annähernd, Sie bestimmen näherungsweise die Wahrscheinlichkeit dafür, dass jedes dieser Ergebnisse tatsächlich stattfindet. Im Anschluss nutzen Sie diese Informationen, um abzuschätzen, welcher Wert für jede einzelne Handlung zu erwarten ist. Entsprechend der Schätzung dieses Erwartungswerts jeder einzelnen Handlung entscheidet man sich für diejenige Handlung, die das Ergebnis mit dem höchsten geschätzten Erwartungswert hervorbringt.
Angenommen also, dass Sie ein Kind bekommen, sind die relevanten Ergebnisse phänomenale Ergebnisse, die sich darauf beziehen, wie es sich für Sie anfühlt, Ihr Kind zu haben, und zwar einschließlich dessen, wie es sich anfühlt, die Überzeugungen, Wünsche, Gefühle und Dispositionen zu haben, die sich direkt und indirekt daraus ergeben, ein eigenes Kind zu haben. Die relevanten Werte sind somit dadurch bestimmt, wie es sich für Sie anfühlt, dass Sie Ihr eigenes Kind haben, einschließlich der Überzeugungen, Wünsche, Gefühle und Dispositionen, die sich direkt und indirekt daraus ergeben, dass Sie Ihr eigenes Kind haben. (Ich werde diese Werte manchmal als »phänomenale Werte« bezeichnen: Dies sind Werte davon, in mentalen Zuständen mit einem phänomenalen »Wie-es-sich-anfühlt«-Charakter zu sein.) In dem Fall, dass Sie kinderlos bleiben, sind die relevanten Ergebnisse phänomenale Ergebnisse, die sich darauf beziehen, wie es sich für Sie anfühlt, die Auswirkungen der Kinderlosigkeit zu erleben. Damit hängen die relevanten Werte davon ab, wie es sich für Sie anfühlt, Kinderlosigkeit zu erleben. Mit anderen Worten: Der Wert Ihrer Handlung innerhalb des Szenarios hängt unter Voraussetzung des Zustandekommens der Entscheidung weitgehend vom phänomenalen Charakter der mentalen Zustände ab, die sich aus ihr ergeben. Das ist vom Standpunkt des gesunden Menschenverstands weder überraschend noch ungewöhnlich.
Natürlich wird der Umstand, ein Kind zu haben oder kein Kind zu haben, auch einen Wert im Hinblick auf viele andere Dinge haben, wie beispielsweise die örtliche Bevölkerungsstatistik und die Umwelt. Das Hauptaugenmerk liegt hier jedoch auf einer handelnden Person, die ihre Entscheidung, ein eigenes Kind zu haben, weitgehend unabhängig von diesen externen oder unpersönlichen Faktoren zu treffen versucht. In diesem Fall spielt der Wert dessen, wie es sich für die handelnde Person anfühlt, bei der Entscheidung, sich fortzupflanzen, die zentrale, wenn nicht gar die einzige Rolle. Abgesehen davon wird der Wert der Entscheidung auch dadurch beeinflusst, sollten wir den weiteren Rahmen des Werts der Handlung mit einbeziehen, da auch in Fällen mit einer umfassenderen Perspektive