Insel der verlorenen Träume. Karin Waldl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karin Waldl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960741947
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habt ihr meinen Schwestern erzählt, wo Mama war?“, hakte Elias nach.

      „Oh, sie wissen, wo sie war. Sie waren schon zwölf, als sie zurückkehrte. Einmal sprach sie mit ihnen darüber und gebot ihnen Verschwiegenheit. Um zu deinem Wohle zu garantieren, dass sie wirklich den Mund hielten, erfüllte sie ihnen ihren größten Traum. Sie kaufte ihnen zwei Pferde.“

      Stefan schaute, als wollte er sich mit seinem Blick entschuldigen. Elias hingegen entgleisten die Gesichtszüge. Der Pferdewahn seiner Halbgeschwister gründete also auch auf seiner Existenz. Seine Brust schnürte sich unangenehm zu, nicht nur seine Eltern, sondern auch seine Schwestern waren in die Verschwörung involviert. Das konnte doch nicht sein. Kein einziges Mitglied seiner Familie war jemals ehrlich zu ihm gewesen.

      „Wer weiß es noch?“, schnaubte Elias verärgert.

      „Niemand außerhalb der Familie. Wir haben seit damals nicht mehr darüber gesprochen.“

      „Oma und Opa?“

      „Desirees Eltern wussten es auch, aber wie du weißt, können sie es niemandem mehr erzählen, da sie bereits tot sind“, druckste Stefan herum.

      Das wurde ja immer schöner! In welches Lügennetzwerk war er da verstrickt? Welche schrecklichen Umstände mussten bei seiner Geburt geherrscht haben, dass alle beschlossen hatten, ihn konsequent anzulügen? Elias’ Herz verkrampfte sich. Konnte er noch irgendjemandem vertrauen?

      „Deine Mutter und deine Schwester?“, legte Elias noch einen drauf, um endlich Gewissheit zu haben, wer von seiner Herkunft wusste.

      „Ich habe sie im Dunkeln gelassen. Ich sagte ihnen, Desiree sei tot. Als sie mit dir zurückkehrte, schaute Mutter mich schief an und hielt mich für einen Lügner, wie sie es seit der Ehe mit meinem Vater von jedem Mann dachte. Ich glaube, dass sie meiner Schwester etwas Ähnliches erzählte.“

      „Wieso hast du es dann nicht richtig gestellt?“

      „Dann hätte ich es erklären müssen. Es war besser, sie denken zu lassen, was sie denken wollten.“

      „Und dein Ruf?“

      Stefan lachte. „Elias, das musst du erst lernen. Ich selbst weiß, wie es in mir aussieht. Dazu brauche ich keine anderen.“

      Elias schüttelte verständnislos den Kopf. „Was hat Mutter dir gegeben, dass du nichts ausplauderst?“

      „Das Versprechen ihrer Treue und die Erlaubnis, dir ein guter Vater sein zu dürfen.“

      „Weißt du, die meisten Männer hätten sie vor die Tür gesetzt“, rutschte es Elias heraus. Er verstand das Handeln seines Stiefvaters immer weniger.

      „Nein, so war es nicht. Aber ich kann es dir leider nicht erklären“, erwiderte Stefan, während er auf seine angebissene Aufstrichsemmel schaute.

      „Weißt du, was ich glaube? Du bist ein Feigling.“ Erneut stieg Wut in Elias auf.

      Stefan starrte ihm in die Augen. „Wie gesagt, du darfst glauben, was du willst. Ich kann dir nur sagen, dass es nicht so ist. Ob du mir vertraust oder nicht, ist deine Entscheidung.“

      „Entschuldigung, ich meinte es nicht so“, kühlte sich Elias schnell wieder ab.

      Schweigend aßen sie ihr Frühstück. Die Kellnerin räumte die Teller ab und brachte erneut Kaffee.

      „Willst du nun wissen, wie es nach eurer Rückkehr war?“, wagte Stefan einen weiteren Versuch.

      „Bitte“, gab Elias resigniert zurück.

      Stefan holte tief Luft. „Eines Tages, zwei Jahre nachdem deine Mutter weggegangen war, stand sie wieder vor der Tür. Sie sah schrecklich aus, total abgemagert. Es tat mir in der Seele weh, sie so ausgemergelt zu sehen, denn Desirees Rundungen fand ich immer schon attraktiv. Sie wirkte surreal mit ihren ausgewachsenen Haaren und schwarzen Augenringen. Sie murmelte ein leises ,Tut mir leid‘, ehe sie mich zögerlich an der Hand nahm. Ich freute mich riesig, doch sie hatte etwas auf dem Herzen. Und dieses Etwas kam kurz darauf mit einem weiteren Taxi. Nach einigen vorbereitenden Worten drückte mir Desiree ein lebendiges Bündel in die Hand. Ein kleines, nicht sehr gut ernährtes, aber anscheinend zufriedenes Baby. Das warst du, Elias. Ich konnte in dem Augenblick nicht sauer sein, denn dein Lachen traf mich mitten ins Herz. Noch dazu war es die Phase, in der Babys jeden Fremden rigoros ablehnen. Keiner durfte dich in den kommenden Tagen auch nur anschauen, ohne dass du sofort zum Schreien anfingst. Aber mich hast du mit einem Lachen begrüßt, als würden wir uns schon immer kennen. Und als Desiree mir im nächsten Augenblick verriet, dass du ein Junge seist, bekamen meine unerfüllten Träume Flügel. Eine Stimme in mir sagte, du wärst der Sohn, den ich mir immer gewünscht habe. Ich liebe deine Schwestern, aber du machtest unsere Familie komplett. Mit dir hatte ich endlich männliche Unterstützung in der Frauenwelt, die mich bis dahin umgab.

      Ich wollte eigentlich gar nicht wissen, wie du gezeugt wurdest, aber es war ein unausweichlicher Schritt, der ungefähr zwei Wochen nach ihrer Rückkehr gegangen werden musste. Ein einziges Mal erzählte Desiree ihre Geschichte vor ihren Eltern, unseren Töchtern und mir. Danach sprach sie nie wieder darüber. Der Schmerz fraß mich fast auf. Ich konnte selbst gar nicht fassen, wie sehr ich sie nach zwei Jahren immer noch liebte. Aber es war gut, damals einen eindeutigen Schlussstrich gezogen zu haben, so konnte ich diesen anderen Mann für mich in deinem Leben ausblenden. Ich war und bin bis heute dein Vater, mit ganzem Herzen.“ Stefan drückte Elias’ Hand.

      Dieser schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter. So emotional hatte er seinen Stiefvater noch nie erlebt. Er rang sichtlich um Fassung, konnte seine Tränen aber nicht zurückhalten.

      „Desiree erholte sich. Sie brauchte viel Nähe und Stille. Stundenlang hielt ich sie schweigend in den Armen. Sie weinte monatelang. Den Grund für ihre Trauer wollte ich nicht erfahren. Ich hatte zu große Angst vor der Wahrheit. Heute weiß ich, dass sie um deinen Vater trauerte. Die Trennung von ihm zerquetschte ihr buchstäblich das Herz. Aber ich wollte das nicht sehen, denn sie war zu mir zurückgekommen. Ich brauchte ihre Nähe, wie ein Verdurstender einen Schluck Wasser braucht. Ich war wieder der wichtigste Mann in ihrem Leben. Ich redete mir ein, dass mir das genügen würde. Schrittweise wurden wir wieder zu einer Familie. Die Zwillinge gewöhnten sich an eure Anwesenheit. Sie hatten ihre Mutter vermisst. Du wurdest ihnen zum liebsten Puppenersatz. Natürlich waren sie vorsichtiger mit dir und sie lernten dadurch, Verantwortung zu übernehmen, was ihnen auch in anderen Lebensbereichen unendlich guttat.

      Wir verbrachten jede freie Zeit zu fünft, kapselten uns von Freunden und Familie total ab. Einerseits mussten wir wieder zueinanderfinden, andererseits verstand sowieso keiner, warum ich Desiree mit einem mitgebrachten Baby wieder aufgenommen hatte. Diesen Schmerz der Missbilligung in unserem Umfeld wollte ich ihr und mir ersparen. Es kam zum Bruch mit allen, die wir kannten, außer Desirees Eltern. Meine Mutter ließen wir außen vor, redeten höflich alle heiligen Zeiten mit ihr. Aber mehr wollten und konnten wir nicht geben. Deinen Schwestern war Gott sei Dank die Pubertät zu Kopf gestiegen. Sie waren so sehr mit ihren überschwänglichen und depressiven Gefühlsausbrüchen beschäftigt, dass sich alles nur um sie selbst drehte. Der Einzige, der sie aus der Achterbahn ihrer verrückten Emotionen herausholen konnte, warst du.

      Ich redete mir ein, es wäre alles wieder perfekt, die geistige Abwesenheit deiner Mutter verdrängte ich, so gut es ging. Ich entschuldigte ihr Verhalten damit, dass sie noch mehr Zeit brauchte, um innerlich heil zu werden.

      Und dann kam der Tag, an dem sie wieder zu schreiben begann. Ihr Herz schien wieder stabil genug zu sein. Ich kümmerte mich währenddessen um meine Firma und um dich. Desiree hängte sich voll rein. Und es war ein unbegreifliches Phänomen. Es wurde immer leichter für sie, Drehbücher und Theaterstücke zu verkaufen. Desiree Benjamin wurde über die Jahre zu einer Marke. Ich war und bin heute noch sehr stolz auf deine Mutter. Der Nachteil war, sie brauchte viel Ruhe. Sie teilte sich die Zeit mit euch Kindern gut ein. Nala und Nele wurden sowieso gerade flügge und du hattest mich. Doch Zeit für mich plante deine Mutter nicht ein. Ich musste sie immer wieder daran erinnern, damit sie auch mal mit mir einen schönen Abend verbrachte. Wenn es so weit