»Wir gehen in Maibach zur Schule«, erklärte Pünktchen.
Nick mahnte: »Wir müssen jetzt gehen, sonst kommen wir zu spät. Hoffentlich dauert die Reparatur an Ihrem Wagen nicht zu lange.« Er stieg wieder auf das Fahrrad. »Auf Wiedersehen, Herr Steiner!«
Pünktchen sprang ebenfalls auf ihr Rad. »Wiedersehen!« Sie winkte dem jungen Mann zu.
»Wiedersehen, ihr beiden!« Reinhold Steiner sah den beiden Radfahrern noch einige Sekunden nach, dann klappte er die Motorhaube seines Wagens zu und machte sich auf den Weg nach Sophienlust.
*
Erika Reimann saß mit ihrer neunjährigen Tochter Jessica auf der Terrasse ihres Maibacher Hotels und genoß den Sonnenschein. Vor den beiden auf dem Tisch lag ein Mühlespiel. Erika hatte ihre Tochter jetzt schon zum fünften Mal besiegt, obwohl es sonst gewöhnlich Jessica war, die alle Spiele gewann.
»Sollen wir aufhören, Jessi?« fragte Erika. »Wir könnten etwas anderes spielen, wenn du heute für Mühle keine Lust hast.«
Jessica hob den Kopf. Wie ihre Mutter hatte sie blaue Augen und dunkelblonde, fast braune Haare. »Warum heiratest du nicht, Mutti?« antwortete sie mit einer Gegenfrage.
Also darüber hatte ihre Tochter nachgedacht!
»Sag mal, Jessi, wie kommst du denn jetzt darauf?« fragte Erika Reimann. Sie wußte zwar, wie sehr sich Jessica einen Vater wünschte, aber nur des Kindes wegen konnte sie schließlich nicht heiraten. Außerdem steckte die Enttäuschung mit Jessicas Vater noch tief in ihr.
»Ich muß daran denken, daß die Renate einen neuen Vater bekommen hat.« Jessica strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Sie hat jetzt zwei Väter, und ich habe nicht einmal einen!« Es klang anklagend.
»Renates Mutter hat sich vor einem Jahr scheiden lassen«, erwiderte Erika, »aber du hattest nie einen Vati. Dein Vati war schon nicht mehr bei mir, als du geboren wurdest.«
Gerhard Baumann, Jessicas Vater, hatte sich bereits vier Monate vor der Geburt des Kindes aus dem Staub gemacht und nicht daran gedacht, die Mutter zu heiraten. Erika dachte an all die großen Reden, die er damals geschwungen hatte. »Mein Leben lang werde ich für unser Kind sorgen, Erika. Das verspreche ich dir. Aber ich tauge nun einmal nicht zum Ehemann. Bitte, sieh das ein!«
Siebzehn war Erika damals gewesen und völlig allein.
»Hast du meinen Vati sehr liebgehabt?« erkundigte sich Jessica. Sie begann an ihren Fingernägeln zu knabbern, wie immer, wenn sie ein Problem hatte.
»Ja, ich habe deinen Vati sehr gern gehabt«, erwiderte Erika. Obwohl sie Gerhard Baumann noch jetzt wegen seiner Treulosigkeit haßte, verriet sie das nicht ihrer Tochter. Jessica sollte nicht wissen, wie gemein sich ihr Vater damals benommen hatte. Sie wollte nicht, daß das Kind damit belastet wurde. Es war schon schwierig genug für Jessica, ohne Vater aufwachsen zu müssen.
»Und hat er dich auch liebgehabt?« Forschend ruhten die Augen des Mädchens auf dem Gesicht der Mutter.
»Ich glaube schon«, antwortete Erika. Sie griff über den Tisch hinweg und hielt Jessicas Hände fest. »Du sollst nicht immer deine Fingernägel abknabbern, Jessi!«
»Wenn sie aber so schartig sind!«
»Sie sind schartig, weil du sie abknabberst«, argumentierte Erika Reimann.
»Hm!« Jessica schaute auf ihre wirklich alles andere als ansehnlichen Fingernägel. »Wenn ich sie nicht mehr abknabbere, machst du mir dann Nagellack drauf, Mutti?«
»Einverstanden«, sagte Erika. Sie hatte farblosen Nagellack dabei. Wenn es half, Jessica das Knabbern abzugewöhnen, warum nicht? Sie winkte der Kellnerin, die gerade auf die Terrasse trat. »Jessi, möchtest du Eis oder Torte?« fragte sie ihre Tochter.
Jessica überlegte. »Ein kleines Eis und ein kleines Stück Erdbeerkuchen«, entschied sie.
Die Kellnerin sah Erika fragend an. »Wir haben nur die normalen Tortenstücke, Frau Reimann«, sagte sie.
»Bringen Sie Jessi ruhig beides«, erwiderte Erika. »Und für mich bitte ein Kännchen Kaffee und ebenfalls Torte. Schokoladentorte.«
Jessica wartete, bis die Kellnerin weitergegangen war, bevor sie fragte: »Glaubst du, daß du keinen Mann findest, Mutti?«
Erika mußte schlucken. Auf Ideen kam das Kind!
»Die Sache ist die, daß ich ganz einfach nicht heiraten möchte, Jessi«, sagte Erika. »Schau, wir haben es doch so schön zusammen. Nach der Schule kommst du zu mir in die Boutique, machst dort Schularbeiten und spielst, und wenn du etwas von mir möchtest, bin ich jederzeit für dich da. Deine Freundin Renate hat es nicht so gut. Sie muß nach der Schule in den Hort gehen. Und das wird jetzt auch nicht anders, nachdem ihre Mutter zum zweiten Mal geheiratet hat. Frau Till erzählte mir, daß sie auch weiterhin den ganzen Tag arbeiten gehen wird.«
»Aber Renate hat zwei Vatis!« Bekräftigend hob Jessica zwei Finger. »Du könntest eine Heiratsanzeige aufgeben«, schlug sie vor. »Manche Leute machen das.«
»Jessi, jetzt wollen wir dieses Thema fallenlassen«, erwiderte Erika streng. »Ich werde nicht heiraten, und damit mußt du dich abfinden ob es dir gefällt oder nicht.«
»Gut!« Jessica preßte die Lippen zusammen. Düster starrte sie vor sich hin. Plötzlich hob sie den Kopf und blickte über die Terrassenbrüstung hinweg in den Hotelgarten. Sie hatte Kinderstimmen gehört. Sehnsüchtig folgten ihre Augen der Familie, die im Garten spazierenging. Die beiden kleinen Mädchen hatten einen Vati!
Erika packte das Mühlespiel zusammen und schob es in den Karton zu den übrigen Spielen, die sie nach Maibach mitgebracht hatten. »Was meinst du, Jessi, sollen wir nachher noch ein bißchen in die Stadt gehen und einen Einkaufsbummel machen?«
Jessica nickte lustlos. Sie sah zur Terrassentür. Die Kellnerin brachte gerade Eis und Torte.
Erika dankte der Kellnerin und bezahlte gleich. Sie fühlte sich irgendwie schuldig, obwohl sie sich sagte, daß es dazu keinen Grund gebe. Warum sollte sie heiraten? Es gab genug schlechte Ehen in ihrem Bekanntenkreis. Und Jessica? Jessica würde sich umsehen, wenn sie einen Stiefvater bekommen würde. Wer garantierte ihr denn, daß der Mann, den sie heiraten würde, gut zu Jessica sein würde? Vor der Ehe konnte man viel versprechen!
Hand in Hand mit ihrer Tochter verließ Erika Reimann eine halbe Stunde später das Hotel. Jessica hatte ihre Puppe mitgenommen. Liebevoll hielt sie sie im Arm.
Kurz hinter dem Hotel kamen die beiden an eine Kreuzung. Um in die Innenstadt zu gelangen, mußten sie auf die andere Straßenseite wechseln. Gehorsam blieb Jessica neben ihrer Mutter stehen, während beide auf Grün warteten.
»So, jetzt!« Erika umfaßte die Hand ihrer Tochter etwas fester, denn sie hatte immer Angst um Jessica. Diese war zwar gewohnt, belebte Straßen zu überqueren, schließlich lebten sie in Stuttgart, aber sie war eben noch ein Kind.
Die beiden hatten schon die andere Straßenseite erreicht, als sie den Terrier sahen. Er lief auf die Straße und setzte sich mitten auf den Zebrastreifen. Eben schaltete die Ampel auf Rot.
Blitzschnell riß sich Jessica von der Hand ihrer Mutter los und rannte auf die Straße zurück. Sie wollte den Hund vor den anrollenden Wagen retten.
»Jessi!« Erikas entsetzter Aufschrei ging im Kreischen der Bremsen unter.
Jessica hatte den Hund mit ihrer freien Hand am Halsband ergriffen und zerrte ihn zur anderen Seite des Bürgersteigs. Hinter ihr fuhren die Wagen erneut an. »So, nun lauf!« Sie gab dem Terrier einen leichten Klaps. »Man läuft doch nicht bei Rot über die Straße!« schalt sie.
»Das solltest du dir aber selber merken, mein Kind!« Ein beleibter, rotgesichtiger Mann packte Jessica grob