Neuroanatomie. Markus Kipp. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Markus Kipp
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Медицина
Год издания: 0
isbn: 9783868675207
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hierbei jedoch nicht um eine simple Weiterleitung von sensorischen und sensiblen Impulsen. Vielmehr entscheidet der Thalamus darüber, welche Informationen weitergeleitet und welche unterdrückt und uns somit nicht bewusst werden. Spannend aber ungeklärt bleibt die Frage, inwiefern bei Menschen mit besonderen Fähigkeiten (etwa Menschen mit photographischem Gedächtnis) der Thalamus gezielt gewisse Sinnesinformationen vermehrt an den Kortex weiterleitet. Wie wir noch sehen werden, leiten sich viele Teile des Diencephalons namentlich vom Thalamus ab, wie etwa Hypothalamus, Subthalamus, oder Epithalamus. Die Zirbeldrüse als einen Teil des Epithalamus haben wir bereits kennengelernt. Ebenso haben wir bereits einen Teil des Hypothalamus angesprochen, nämlich die Neurohypophyse. Funktionell handelt es sich beim Hypothalamus um einen Teil des Zwischenhirns, der als oberstes Regulationszentrum für alle vegetativen und endokrinen Vorgänge verantwortlich ist. Er steuert u. a. Kreislauf, Körpertemperatur, Sexualverhalten, Flüssigkeits- sowie Nahrungsaufnahme und macht demnach viel mehr als bloße ADH- und Oxytocin-Szernierung. Dazu aber später mehr.

      image Topographische Orientierung

      Die Lage des Thalamus ist eigentlich recht einfach zu verstehen. In Abb. 2.8 blicken Sie in den rechten Teil des dritten Ventrikels hinein. Die seitliche Wand des dritten Ventrikels wird im Wesentlichen vom Thalamus gebildet. Sie blicken demnach auf die mediale Wand des rechten Thalamus. Vergleichen Sie hierzu auch Abb. 2.1. Suchen Sie dort den Thalamus als auch den dritten Ventrikel und verdeutlichen Sie sich deren Lage zueinander.

      Da nicht alle Lappen des Großhirns in der medio-sagittalen Ansicht gut zu erkennen sind, ist in Abb. 2.9 zusätzlich noch eine schematische Ansicht von lateral gezeigt. Vorne liegt der Frontallappen (Lobus frontalis; gelb), dem sich von hinten der Parietallappen (Lobus parietalis; rot) anlagert. Gegenüber dem Frontallappen befindet sich der Okzipitallappen (Lobus occipitalis; blau). In der medio-sagittalen Sicht ist ein weiterer Lappen, der Temporallappen (Lobus temporalis; grün) nur teilweise zu sehen, er soll aber hier schon einmal erwähnt werden. Gleich oberhalb des Corpus callosum befindet sich der sogenannte Gyrus cinguli (Gürtelwindung; grau in Abb. 2.9) der von manchen Autoren als eigenständiger Lappen geführt wird. Er beeinflusst die Aufmerksamkeit und Konzentration, verarbeitet Schmerzen und reguliert Affekte. Ist er geschädigt, mangelt es den Patienten unter anderem an Antrieb: Sie erscheinen emotional abgestumpft und bewegen sich wenig.

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      Die vier Lappen des Großhirns in medio-sagittaler und lateraler Ansicht

      gelb: Lobus frontalis

      rot: Lobus parietalis

      blau: Lobus occipitalis

      grün: Lobus temporalis

      1Gyrus cinguli

      2Sulcus parietooccipitalis

      3Cuneus

      4Sulcus calcarinus

      5Gyrus praecentralis

      6Gyrus postcentralis

      7Sitz des motorischen Sprachzentrums; Broca-Zentrum

      8Sitz des sensorischen Sprachzentrums; Wernicke-Zentrum

      Die verschiedenen Gyri des Großhirns können, wie gerade exemplarisch für den Gyrus cinguli gezeigt, verschiedenen Funktionen zugeordnet werden. Die genauen Namen dieser Gyri sowie deren Funktion werden in den Kapiteln 11 und 12 über das motorische bzw. sensible System behandelt. Ein allgemeiner Überblick soll jedoch jetzt schon gegeben werden.

      image Der Fall Phineas Gage

      Der 25-jährige Vorarbeiter Phineas Gage ist ein Routinier in Sprengungen. Die Bohrlöcher entlang der geplanten Eisenbahntrasse im US-Bundesstaat Vermont füllt er mit Schießpulver und verschließt sie danach mit Sand, welchen er mithilfe eines sieben Kilo schweren und drei Zentimeter dicken Eisenstocks feststampft. Eigentlich kann nichts schiefgehen. Am 13. September 1848 aber vergisst Gage den Sand und schlägt mit seinem „Ladestock“ direkt auf das Pulver. Er schrappt am Stein vorbei; Funken sprühen und die Explosion treibt die Stange komplett durch Gages Kopf. Die über einen Meter lange Stange tritt in der Höhe des Auges durch den Wangenknochen ein und tritt schlussendlich am Hinterkopf wieder heraus. Eigentlich müsste Gage tot sein, doch er ist nur kurz bewusstlos. Dann steht er eigenständig auf und fährt mit einem Ochsenkarren in seine Unterkunft. „Doktor, hier gibt es ordentlich was zu tun für Sie“, begrüßt er den herbeigeeilten Arzt John D. Harlow.

      Dr. Harlow leistet ausgezeichnete Arbeit. Trotz der offenen Verletzung in Schädel und Gehirn überlebt Gage den unglücklichen Unfall. Äußerlich fehlt ihm fortan nur ein Auge, aber sein Verhalten verändert sich schlagartig. Zwar spricht er weiterhin normal und erinnert sich an alles, was mit ihm passiert ist. Auch sein Intellekt scheint unverändert. Als Vorarbeiter, der er war, ist er jedoch nach dem Unfall nicht mehr einsetzbar. Der einstmals zuverlässige Mann kann sein Leben nicht mehr organisieren. Und seine ehemals höfliche und freundliche Art ist blankem Jähzorn und Respektlosigkeit gewichen. Durch seine merkwürdige Persönlichkeitsveränderung wird Gage zu einem Anschauungsobjekt der relativ neuen Hirnforschung. Sein Retter John D. Harlow macht 1868 die Verletzung des Frontalhirns dafür verantwortlich: „Die Eisenstange zerstörte die Regionen von Mitgefühl und Autoritätsgefühl, nun beherrschen animalische Leidenschaften seinen Charakter“, urteilt der Arzt – eine gewagte These in einer Gesellschaft, nach deren Glauben jeder Mensch von Gott auf die ihm einzigartige Art und Weise