Postler wusste nicht, ob er es gut oder schlecht finden sollte, und sagte lieber nichts.
War es nicht zu begrüßen, wenn gerade junge Menschen sich derart engagierten? Und was machte es schon aus in einem so jungen Leben, wenn man ein Jahr früher oder später studierte? Andere stiegen für ein Jahr aus und arbeiteten als Animateurin in einer Clubanlage oder machten Work & Travel. Frau Störz‘ Enkeltochter aber machte eben das – Hilfe leisten, wo die mehr als gebraucht wurde… Andererseits – dafür einen Studienplatz abgeben? Hm. Sicher könnte die junge Dame Menschen helfen, ohne das Land zu verlassen. Wenn es seine Tochter wäre, was würde er ihr raten?
Er selbst hatte keine Kinder, mit solchen Fragen musste er sich also nicht auseinandersetzen.
»Das sind allerdings Neuigkeiten«, sagte Postler. »Ich wünsche Ihrer Enkelin alles Gute! Ich muss jetzt leider los, tut mir leid.«
»Haben Sie das von der Kassiererin im Diskounter um die Ecke gehört?« Frau Störz berührte Postler am Arm, wie um ihn aufzuhalten.
»Was denn?« Postler warf einen Blick auf seine Uhr. Eine Minute hätte er noch. Er wollte nicht unhöflich erscheinen.
»Frau Werner, die Mollige mit den kurzen Haaren, die quasi zum Inventar gehört und seit der Öffnung vor zwanzig Jahren schon dort an der Kasse sitzt…« Sie senkte ihre Stimme.
Postler hatte keine Ahnung, wie lange Frau Werner schon dort gearbeitet hatte – so gut im Bilde über alles und jeden wie seine Nachbarin war er nicht.
»Sie haben es noch nicht gehört?!« Frau Störz sah Postler mit weit aufgerissenen Augen an. »Die hat man gestern festgenommen!«
»Festgenommen? Wie… meinen Sie von der Polizei?« Postler dachte, er hätte sich verhört oder es falsch verstanden.
»Da gab es doch diese Betrugsfälle kürzlich. Die Behörden tappten erst im Dunkeln – aber dann… na ja, es war die Werner mit zwei Komplizen.« Sie schüttelte den Kopf.
»Wollen Sie mich veräppeln?« Was erzählte die Frau denn bloß?!
»Herr Postler! Meinen Sie, ich mache Scherze über so etwas?!«
»Nein… ich meine, wenn Sie das sagen… es ist nur, das ist ja einfach nicht zu glauben… Was hat die denn geritten? Ich kann das gar nicht glauben – die Story ist echt abstrus. Diese brave Frau…« Was war das nur für ein Morgen? Der erste April? Waren alle verrückt geworden. Wie kam es eigentlich, dass er von der Sache noch nichts wusste?
»Wann war das, sagten Sie? Ich habe das gar nicht gelesen – wo ich doch jeden Tag Zeitung lese.« Postler konnte sich an so eine Meldung nicht erinnern.
»Sie lesen ja auch keine lokale Zeitung!« Missbilligend zeigte sie auf seinen Aktenkoffer. Offensichtlich kannte sie seine Gewohnheiten. »Solche banalen Meldungen von kleineren Delikten in den Randbezirken stehen da natürlich nicht drin.« Es klang wie eine Rüge.
Als müsste er sich für die Auswahl seiner Morgenlektüre rechtfertigen, sagte er: »Ich muss aus beruflichen Gründen über den Tellerrand schauen.«
Sie winkte ab, mit einer Geste, die zu sagen schien: Wer interessiert sich noch für das, was mit dem Durchschnittsbürger passiert. Dann sagte sie: »Auf jeden Fall beängstigend. Man denkt, einen Menschen zu kennen, und dann das! Egal, wo man hinschaut, überall Irre. Nehmen Sie doch nur mal den Maier kürzlich – der hat doch tatsächlich –«
»Tut mir leid, Frau Störz, ich muss jetzt wirklich los, sonst verpasse ich meine U-Bahn.« Die Unterhaltung begann, unsachlich zu werden, aber das war nicht Postlers Art. Vom Einzelfall gleich in Verallgemeinerung abzudriften, mochte er nicht. Frau Störz war eine nette Dame, aber sie tratschte manchmal einfach zu gerne. »Ich habe Sie auch schon lange genug aufgehalten. Sie haben doch noch so viel zu tun, Ihre Enkelin und so…«
»Ja! Das stimmt! Wir reden ein anderes Mal weiter.« Es war ihr anzusehen, dass sie sich bei der Verbreitung des Buschfunks ertappt fühlte. Die Sache mit der Kassiererin aber war den Tratsch wert. Unerklärlich!
Postler verabschiedete sich rasch von seiner Nachbarin und schritt nun etwas zügiger als zuvor Richtung U-Bahn-Station.
Heute war Donnerstag, und wie jeden Donnerstag fing er statt um acht erst um zehn Uhr an, genau wie auch jeden zweiten Dienstag. Die gewohnte Routine, ein beständiger Pfeiler im Wirrwarr des immer turbulenteren Alltags. Und eine Möglichkeit, die Wochen im Voraus exakt zu planen. So hatte er es am liebsten.
Er ergatterte einen der wenigen freien Sitzplätze, holte die Zeitung aus seinem Koffer und schlug sie auf. Die U-Bahn-Fahrt dauerte exakt dreiunddreißig Minuten – genug Zeit, um die üblichen Rubriken in der Zeitung zu überfliegen. Meist kam er beim Lesen exakt bis zum Sportteil, das unterstrich seine morgendliche Routine. Den Rest würde er in der Mittagspause querlesen, wie immer. Dafür gönnte er sich dreißig Minuten, dann blieben ihm fünfzehn Minuten fürs Essen, Fleischkäse mit Bratkartoffeln würde heute seine Wahl in der Kantine sein, wie jeden Donnerstag.
Nach wenigen Sekunden schon blieb er an einer Zeitungsmeldung hängen. An ein und demselben Tag waren gleich in mehreren Städten Menschen von völlig Fremden vor den einfahrenden Zug gestoßen worden. »Geschubst« hieß es. Aber war das nicht ein viel zu niedliches Wort für so eine unfassbare Tat? Diese Grausamkeit schien sich auszubreiten wie ein Virus, und er wollte sich gar nicht vorstellen, wie oft eine solche Tat dann nachgeahmt wurde. Hatte er nicht neulich etwas über diesen »Schneeballeffekt« gelesen? Die Vorfälle hatten offensichtlich nichts miteinander zu tun, aber sie ähnelten sich und folgten zeitlich nah aufeinander. Jetzt noch von Einzelfällen zu sprechen, wäre irreführend.
In dem Artikel kam auch ein Sicherheitsexperte der Regierung zu Wort. Man müsse intensiv über strengere Gesetze zur Überwachung diskutieren, um Ereignissen wie diesen zuvorzukommen, sagte er. Um Ereignissen zuvorzukommen? In U- und S-Bahn-Stationen waren doch ohnehin bereits ausreichend Kameras angebracht. Offensichtlich schreckten die niemanden ab. Wie sollten denn noch mehr Kameras diese Dinge verhindern? Sie erleichterten doch lediglich das Ergreifen der Täter. Viel mehr Arbeit müsste in die