Subliminal. Thorsten Oliver Rehm. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thorsten Oliver Rehm
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783920793498
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persönlich zu übermitteln! Naja, persönlich ging anders… Wie konnte man eine jahrzehntelange Freundschaft einfach so aufgeben, ohne dass konkret etwas vorgefallen war?! Noch dazu übers Smartphone?!

      Die Chemie passt nicht mehr, hatte Nadine geschrieben, und wir sehen uns ohnehin zu wenig und haben auch kaum noch gemeinsame Interessen, geschweige denn gemeinsame Zeit. Ich will nicht im Streit auseinandergehen und mag dich immer noch, sehe aber einfach keine Basis mehr und somit keinen Sinn darin, bloß phasenweise Kontakt zu halten, sich hin und wieder zu treffen, fast wie eine Pflichtveranstaltung, aus Anstand, um sich mal wieder gesehen zu haben. Und viele deiner Meinungen finde ich inzwischen absolut inakzeptabel. Das ist alles nicht das, was ich mir unter Freundschaft vorstelle. Es ist sicher das Beste, es nun zu beenden.

      Das Beste für wen?

      Natascha war an dem Tag völlig vor den Kopf gestoßen gewesen und hatte sich gefühlt, als läge ein Sandsack auf ihrer Brust. Und was sollte das mit ihren Meinungen? Sie hatten sich doch immer über alles offen ausgetauscht! Selten hatte Natascha sich so gedemütigt und wertlos, das krasse Gegenteil von wertgeschätzt gefühlt. Und das, wo sie derzeit ohnehin voller Selbstzweifel und Sorgen war – und zu alledem der kraftraubende Alltag als alleinerziehende Mutter mit Fulltime-Job und ohne ihre eigene Mutter oder irgendwem sonst als Auffangnetz.

      Wie der sprichwörtliche Hamster raste sie im Rad, bestrebt, all ihren Pflichten gerecht zu werden. Gut, dass Sie nicht auch noch die Rolle der Mega-Liebhaberin und perfekten Ehefrau und Köchin gerecht werden musste! Dann würde sie das Klischee der modernen Powerfrau perfekt erfüllen. Am besten noch nebenher in der Politik Karriere machen. Na klar! Schwachsinn das Ganze! Wer glaubte den Mist denn heute wirklich? Dass man als Frau allem und jedem gerecht werden könnte – gerecht werden müsste – und daran, dass man es tatsächlich schaffen würde! Mit einer Nanny und jeder Menge Kohle auf dem Konto und Personal-Coach, Masseur und Gourmet-Koch an der Seite, dann vielleicht, mag sein! Ins gemachte Nest gebettet, wie manche Promis, die aus ihrer perfekten Märchenwelt heraus den Normalbürgern den Spiegel vorhielten, damit diese dann mit Schrecken ihre eigene Unzulänglichkeit erkannten, vorgespiegelt aus einem Schlaraffenland voller Illusionen.

      Natascha aber verzweifelte daran, dieses Klischee der Megafrau auch nur im Ansatz erfüllen zu müssen und wollte es auch gar nicht. Wenigstens diesbezüglich war sie noch »Herr« ihrer Sinne. Wenn ansonsten das meiste nicht rund lief, klar denken konnte sie noch. Oder etwa nicht?

      Hatte Markus sie deswegen sitzenlassen? War sie nicht perfekt genug für ihn gewesen? Hatte sie ihn in die Arme dieser jungen Göre getrieben? War sie es, die alles falsch machte, auch noch die falschen Meinungen hatte, sich falsch verhielt, nicht nur in der Partnerschaft, sondern auch sonst?

      Wendete man sich also zu Recht von ihr ab? Hatte sie sich negativ verändert, nicht etwa die anderen? War ihre eigene Neigung, sich ständig über andere zu ärgern und dabei zunehmend hart zu werden, womöglich genau das, was sie an den anderen missbilligend wahrnahm? Wenn sie wütend auf andere blickte, sah sie womöglich schlicht in einen Spiegel? War sie es, die immer zickiger, intoleranter und herzloser wurde, und nicht die Menschen um sie her? Hatte der Stress sie schon so fest im Griff? Oder waren sie allesamt gefangen in diesem Kreislauf von überhandnehmender Lieblosigkeit, Eigensucht und Stress? Klar, die einstige Natascha war sie seit geraumer Zeit nicht mehr. Aber wie könnte so ein Alltag auch spurlos an einem vorübergehen und man immer voll bei sich, in seiner Mitte sein? Sie war permanent unter Stress und fand keinen Ausweg.

      Ihre Ex-Freundin Nadine hatte da gut reden – zwei Großelternpaare an der Seite, fast jedes Wochenende ausgehen und unter der Woche arbeiten dürfen und, wenn es hart auf hart kam, nicht einmal wirklich müssen – ihrem Mann und seinem Traumgehalt sei Dank… Nicht dass sie es Nadine nicht gönnte. Das tat sie von Herzen. Aber es ärgerte sie, dass Nadine den Unterschied nicht sah. Da war ein riesiger Unterschied zwischen ihrem und Nataschas Leben, aber Natascha hatte trotzdem versucht, den Kontakt so gut es ging aufrechtzuerhalten.

      Ja, sicher, Nadine gegenüber hatte sie sich die letzten Jahre rargemacht – aber sie hatte es ihr auch immer wieder erklärt. Es war ihr einfach nicht möglich, auf dieselbe Weise wie früher soziale Kontakte zu pflegen. Aber sie war sich sicher, dass sie nicht weniger zugewandt war als früher. Das einzige war, dass freundschaftliche Begegnungen mit anderen Menschen – ihrem fordernden Alltag geschuldet – immer seltener stattfanden. Mit Kind, mit Job, ohne Partner, ohne Eltern, die sie hätten entlasten können, und mit begrenzten Kindergartenöffnungszeiten.

      Sicher, sie hätte damals den anderen Kindergarten ein bisschen weiter entfernt wählen können – dort waren die Betreuungszeiten ausgedehnter. Aber sie wollte so viel Zeit wie möglich mit ihrer Tochter verbringen. Sicher, sie hätte öfter die Initiative ergreifen und zu Freunden fahren können, aber aus ganz verschiedenen Gründen war das immer schwieriger geworden. Die Überlastung, die unterschiedlichsten Wendungen in ihrem und im Leben ihrer Freunde, das immer magerer werdende Interesse aneinander bei gleichzeitig immer größer werdender Distanz…

      Natascha hatte Lea spät bekommen – na und?! Plötzlich war sie aus dem Raster gefallen – einem Raster, dass die anderen um sie herum definiert hatten – und war mehr und mehr außen vor. Wer aber hatte ihr denn mal angeboten, Lea zu nehmen, sodass sie mal wieder mit anderen etwas hätte unternehmen können? Sie war sich nicht einmal sicher, dass sie zugesagt hätte, vielleicht war sie dazu viel zu sehr Helikopter-Mama und konnte schlecht loslassen… War das ihr Problem? Konnte sein. Aber wer hatte es ihr denn zumindest mal angeboten? Niemand! Wo war da denn Hilfsbereitschaft? Fürsorge? Das Miteinander? Unterstützung? Gemeinschaft? Freundschaft?! Zu wenig gemeinsame Zeit? Wenn das die Chemie war, die nicht mehr passte, dann war das traurig.

      Okay, sie hatten sich teils in andere Richtungen entwickelt. Das ja. Sie hatte wirklich andere Meinungen als Nadine, sah sie doch auch durch ihren Job als Journalistin die Brennpunkte der Gesellschaft, die Krisenherde, notleidende und vom Schicksal gebeutelte Menschen und Missstände in Politik und Gesellschaft. Und sie machte sich viele Gedanken über das, was sie sah, versuchte dem auf den Grund zu gehen. Das war ja sogar ihr Job! Hatte sie es aber verdient, deswegen so abgekanzelt und abserviert zu werden? Gab es deswegen wirklich keine Basis mehr?

      Was war nur los mit Nadine? Als hätte sie zu viele Entrümpel-dein-Leben-Ratgeber gelesen und die darin enthaltenen, manchmal sogar ganz hilfreichen Botschaften gehörig missverstanden. Als wäre sie irgendeiner Gehirnwäsche unterzogen worden oder in irgendeine Sekte hineingeraten. Natürlich war sie das nicht, aber was veranlasste Nadine dazu, so auf den Gefühlen eines anderen herumzutrampeln – auf Nataschas Gefühlen?

      Am selben Tag hatte sie versucht, Nadine anzurufen, und auch an den Tagen danach. Wieder und immer wieder. Ihr gesimst, gemailt, gewhatsappt. Aber Nadine hatte sie seither wie Luft behandelt. Natascha wollte sich mit ihr treffen, sich aussprechen. Keine Chance. Immer noch glaubte sie daran, dass Nadine doch eigentlich eine ihrer engsten Freundinnen war. Nach zwei Wochen hatte sie es dann auf sich beruhen lassen, erst einmal. Dann, vor ein paar Tagen und mit ein bisschen Abstand, hatte sie sich zaghaft noch einmal gemeldet. Auch darauf keine Antwort. Keine Reaktion.

      Bis heute. Hier am Tisch auf der Veranda der Tauchbasis war nun endlich ein Lebenszeichen von Nadine gekommen. Natascha öffnete die Mail und las.

      Hallo Natascha, sorry, aber ich bin nicht bereit, mich mit dir zu treffen. Nicht, weil ich etwas gegen dich hätte. Einfach weil ich in den vergangenen Jahren gemerkt habe, dass dein Interesse an unserer Freundschaft nachgelassen hat und du dich mehr und mehr von mir zurückgezogen hast und meinen Meinungen widersprichst. Irgendwann wollte ich mich damit so nicht mehr zufriedengeben. Anfangs dachte ich noch, ich hätte etwas falsch gemacht, wusste aber nicht, was. Aber nach und nach wurde mir klar, dass du einfach dein Leben leben willst. Die Zeiten, dass ich mir selbst die Schuld gebe, sind vorbei. Mir ist klargeworden, dass es einfach nicht mehr passt. Ich wünsche Dir für die Zukunft alles Gute! Nadine

      Liebevoller Rückzug!

      »Ich fass es nicht! Was hat die nur geritten?!« Energisch schob Natascha das Smartphone auf die andere Seite des Tisches außer Reichweite, als könnte sie damit diese unverständliche Situation von sich schieben und die Ereignisse unwichtig machen. Zum zweiten Mal am heutigen Tag fragte sich Natascha, was zum Geier eigentlich