Zunächst beschlossen wir umzukehren und unseren Weg in einer anderen Richtung fortzusetzen, vor allem um Konrad eine weitere Begegnung mit dem Krokodil zu ersparen. Seinem Verständnis nach wäre es die erste Begegnung im Anschluss an die vorangegangene erste gewesen. Die erste absichtliche, ungeachtet seines Wunsches, die vorherige erste gleichzeitig die letzte gewesen sein zu lassen. Tessa legte keinen Wert darauf, das Krokodil mit eigenen Augen zu sehen, nicht nach dem erlösenden gemeinsamen Bibbern, dem sie sich zuvor angeschlossen hatte, nicht angesichts des Rückwegs, der ihr erneut die Verstrickung in ein von ihr selbst ersonnenes Regelwerk in Aussicht stellte. Einen Moment lang hatte ich den Eindruck, Tessa angesichts des riesigen vor ihr ausgebreiteten Netzes aus Parketten und Fugen, Horizontalen und Diagonalen leise seufzen zu hören. Ein Seufzen, das jeglichem auf ihr Vorhaben bezogenen Zweifel Gelegenheit gab, ihren kleinen Körper zu verlassen, wie über jene gelben, aufblasbaren Notfallrutschen, die Passagieren eines in Schwierigkeiten geratenen Flugzeugs zur Verfügung stehen. Die fugenlose Form der Fortbewegung hatte sich bewehrt, schließlich war Tessa auf diese Weise die Konfrontation mit einem furchterregenden Wesen erspart geblieben.
Als unsere Karawane – mir kam vor, in ihr fänden sich sämtliche Varianten des Menschseins und Menschwerdens vereint – sich wieder der Richtung zuwandte, aus der wir gekommen waren, stellte sich uns ein Aufseher in den Weg, dem wir bereits zuvor begegnet waren (Tessa: »Das war in dem Raum mit dem Einhorn auf einem Bild«). Ich hatte ihn mir gemerkt, weil er, während wir durch den ihm zugeteilten Saal geschlendert waren, den Eindruck erweckt hatte, jeden unserer Schritte mit Argwohn zu verfolgen. Als hätten wir unaufgefordert einen seiner Privaträume betreten. Jeder einzelne Blick, den wir auf eines der Bilder an den Wänden richteten, zehrte merkbar an seinem Nervenkostüm, als bedienten wir uns an ohnehin knapp bemessenen Vorräten, die ausschließlich ihm zustünden. Als verfüge, was von uns angeschaut wurde, danach geraume Zeit nicht mehr über jenen Glanz, den es in den Augen würdigerer Betrachter üblicherweise zu entfalten vermochte (»Wann spielt das, wenn darin Einhörner vorkommen?«).
Diesmal bemühte sich der Aufseher um keinerlei feindseligen Eindruck. Er wirkte überfordert und gleichzeitig gefasst. Vor uns stand ein Mann, entschlossen, die Fassung zu verlieren, von der Uniform eines Aufsehers daran gehindert und stattdessen dazu gedrängt, sämtliche für einen Ausnahmefall vorgesehenen Maßnahmen zu ergreifen. Ein Ohr an sein Funkgerät gepresst, murmelte er uns, wie beiläufig, etwas von technischen Problemen zu. Sein Murmeln hörte sich jedoch wie eines jener harmlosen Geräusche an, mit denen sich ernstzunehmende Gefahren nur allzu oft ankündigen. Die Schirmkappe seiner Uniform hatte sich der Aufseher vorsichtshalber schon mal in die Stirn geschoben. Ein unmissverständlicher Hinweis darauf, dass hier etwas kurz davor stand, außer Kontrolle zu geraten.
Wurde einem die Verantwortung für einen Haufen Kinder übertragen, oder hat man sich gar selbst darum bemüht, eine solche Verantwortung übernehmen zu dürfen, kostet es weit weniger Überwindung, den Anweisungen anderer, mitunter auch solcher, die einem eben noch misstrauisch gegenübergestanden sind, kommentarlos Folge zu leisten. In gewisser Weise ist es das, was man sich – ohne das je auszusprechen – gelegentlich auch für die Kommunikation zwischen sich und den Kindern, für die man verantwortlich ist, wünscht.
»Was ist ein technisches Problem?«, wollte Emily wissen, und während ich noch schmunzelnd mit dem Gedanken beschäftigt war, dass, was immer da passiert sein mochte, uns dem Krokodil geradezu in den Rachen trieb, kam mir Konrad zuvor.
»Ich war schon im Technischen Museum.«
Seine Antwort schien Emily zu genügen.
»Dann kann ich wenigstens das Krokodil sehen«, sagte ich, und mich an Konrad wendend: »Wer von euch möchte es mir denn zeigen?«
Erleichtert, nicht näher auf die Sache mit dem Museum für technische Probleme eingehen zu müssen, fiel Konrad auf meinen Trick herein und entgegnete, mich bei der Hand nehmend: »Ich zeig’s dir.«
Ein kurzer Blickwechsel zwischen Wanda und mir reichte aus, um darin übereinzukommen, dass vorläufig keinerlei Notwendigkeit bestünde, vor den Kindern näher auf die Probleme einzugehen. Ich las das in Wandas Mienenspiel und hatte gleichzeitig den Eindruck, Wanda finde in meinem Gesichtsausdruck die Bestätigung einer solchen Einschätzung ihrerseits. Beeindruckt, wie problemlos ein einziger Nachmittag mit den Kindern ein funktionierendes Team aus uns geformt hatte, dessen Mitglieder ohne Worte miteinander auskamen, übersahen Wanda und ich, dass wir unseren Gesichtern etwas ablasen, das gar nicht in diesen geschrieben stand. Wir bestätigten jeweils den anderen, weil wir selbst Ausschau nach Zustimmung hielten, darauf vertrauend, einer von uns beiden wisse mit Sicherheit, wie es sich in einer solchen Situation zu verhalten gelte.
»Die vier Weltteile«, sagte Wanda.
»Wer hat das gemalt?«, fragte Emily.
»Ein Maler«, antwortete Iggy, während ich noch zu Wanda hinüberschaute, und spätestens da hätte mir auffallen müssen, dass es nichts als ein Ausdruck ihrer Orientierungslosigkeit gewesen war, was ich leichthin für Bestätigung gehalten hatte. Zumindest aber hätte Wanda merken müssen, dass etwas an mir den Anschein von Zustimmung bei ihr erweckt hatte, das sich besser als Hilferuf zu erkennen gegeben hätte, schließlich sahen wir uns angesichts Emilys Frage und Iggys Antwort vergleichbar zurückhaltend an wie gerade eben, hatten wir doch beide keine Ahnung, wie der Name des Malers der Vier Weltteile lautete. Anstatt die vorangegangene Übereinstimmung als Missverständnis zu entlarven, las Wanda seinen Namen von dem Täfelchen mit der Bildbeschreibung ab.
»Peter Paul Rubens.«
»Peter oder Paul«, fragte Iggy und lachte. Emily begann ebenfalls zu lachen, und auch Konrad lachte, ich glaube jedoch, ohne verstanden zu haben, was Iggy zu seiner Frage bewogen haben mochte. Konrad lachte, weil er es angesichts des Krokodils für besser hielt, die anderen Kinder erneut in die von ihnen gewählte Stimmungslage zu begleiten.
»Peter und Paul«, versuchte es Wanda, während ich immer mehr den Eindruck gewann, Konrad lache aus gutem Grund. In gewisser Weise richtete sich die Bedrohung, die von dem Gemälde ausging, an all jene Kinder, die eine Bedrohung darin erkannten – also an Konrad –, wie sie auch auf dem Gemälde niemand anderem als Kindern galt.
Der sich anbahnende Konflikt zwischen einem Krokodil und einer Tigerin – mit kampfbereiter Miene beugte sie sich schützend über ihren Nachwuchs – beherrschte die gesamte untere Zone der Bildfläche, und damit diejenige, die Kinder am besten einsehen konnten. Hinzu kam, dass es sich bei diesem Abschnitt des Geschehens um den einzigen aufsehenerregenden auf der gesamten Bildfläche handelte.
Neben den Jungen der Tigerin, die, sich an den Zitzen ihrer Mutter labend oder mit trotzigen Mienen in den Gesichtchen schlafend, nichts von der sich anbahnenden Gefahr mitbekamen, kümmerten sich drei menschliche Kinder um das furchteinflößende Reptil. Mittels Liebkosungen und spielerischen Anweisungen schienen sie es von seinem abscheulichen Vorhaben, die Tigerjungen zu verspeisen, abhalten zu wollen, wobei sie allerdings nicht gleichermaßen konzentriert bei der Sache waren. Eines der Kinder lächelte aus dem Bild heraus den vor dem Gemälde stehenden Kindern zu, als bemühe es sich mit seiner Fröhlichkeit – nicht gerade erfolgreich – zu versichern, dass es sich im Grunde nur um ein Spiel handle. Ich musste an den Darsteller des Apachenhäuptlings denken. Krokodil und Tigerin hingegen hatten sich über sämtliche Gattungen hinweg als Erwachsene erkannt, und was immer die auf ein friedlich verspieltes Miteinander abzielenden Menschenkinder vorhatten, die beiden ausgewachsenen Tiere würden sich aller Wahrscheinlichkeit nach darüber hinwegsetzen. Dachten die Kinder allen Ernstes, sie könnten das Krokodil von einem Konflikt mit der Tigerin abhalten?
Andererseits