Talmi. Oskar Jan Tauschinski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oskar Jan Tauschinski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783990650226
Скачать книгу
Ernstls Augen gesehen und von ihm erzählt, hatte sich die Geschichte ganz anders dargestellt.

      »Ja, ja«, sagte ich schließlich, wieder gefaßt, »so macht halt jeder im Leben andere Erfahrungen«, und ich bemerkte mit Staunen, wieviel Wahrheit plötzlich in dieser fertiggekauften Phrase lag. »Es riecht übrigens herrlich bei ihnen, wie in einer italienischen Rosteria.«

      Mausi machte ein verschmitztes Gesicht.

      »Ihnen kann ich es ja sagen«, meinte sie, »aber natürlich ganz im geheimen. Ich besitze einen Elektroofen. Das heißt, er gehört – genau genommen – meiner Kusine, die in Zürich lebt. Und jetzt habe ich endlich herausgefunden, daß man auf diesem Ofen auch zur Not kochen kann, wenn man ihn auf die Seite legt. Vorhin habe ich mir Frittaten gebacken. Köstlich, sage ich Ihnen! Tja, ich habe lange mit mir gekämpft, ob es nicht meine Pflicht sei, den Ofen auch meinen Untermietern zur Verfügung zu stellen. Die Ärmsten frieren ja so und haben nichts Warmes zu essen. Aber ich bin zur Überzeugung gekommen, daß ich dies nicht tun darf. Ja, verstehen Sie mich recht: Der Ofen gehört doch nicht mir. Wenn er verdorben wird – und das wird er bestimmt, wenn drei Haushalte damit heizen und darauf kochen –, so kann ich ihn jetzt gar nicht ersetzen. Man darf nur das Eigene mit dem Nächsten teilen. Das lehrt schon die Legende vom heiligen Martin und dem Bettler. Fremdes Eigentum, das uns anvertraut ist, darf nicht angetastet werden. Finden Sie das nicht auch?«

      »Oh, ja, natürlich, gewiß. Aber jetzt muß ich gehen, Baronin«, sagte ich, denn ich wußte mich am Ende meiner Kräfte.

      »Ich gehe mit Ihnen. Für mich ist es nämlich Zeit zur Abendandacht. Ich fühle mich nirgends so sicher wie in der Kirche. Und dann … Sie werden mich verstehen: Man hat heutzutage so sehr das Bedürfnis, für die vielen Unglücklichen zu beten, die es jetzt überall gibt … Also, ich werde meiner Freundin sagen, daß sie sich noch ein wenig gedulden muß«, schloß sie. »Ist es Ihnen recht, Frau Sedlak?«

      Freundin! dachte ich. So sehen die Freundinnen aus! Deine Vilma läßt ihr Kind von dir aus der Taufe heben, aber darüber hinaus vertraut sie dir nichts an, sonst wüßtest du … Oder weißt du vielleicht? – Nein! Das hat dir deine Freundin gewiß nicht erzählt. Du ahnst nicht, welche Hilfslakaienrolle dein Hilfslakai in ihrem Leben gespielt hat. Anscheinend wart ihr nicht immer so intim wie jetzt.

      »Ja, bitte«, sagte ich müde. »Bereiten Sie Frau Müller darauf vor, daß es noch einige Zeit dauern wird.«

      Wir gingen durch die Zimmer der Untermieterinnen. Die Kinder schliefen bereits. Die junge Witwe saß da, mit gesenktem Kopf und aufgestützten Ellbogen, die Hände ins Haar gewühlt. Die Hofrätin wandte uns den Rücken, als bemerke sie uns gar nicht. Auch unseren Gruß überhörte sie.

      Ich tappte durch die völlig verdunkelten Straßen nach Hause.

      Du frittatenfressendes Kerzlweib! dachte ich grimmig, du Betfunsen, du bigottes Rabenvieh! – Heiliger Martin, laß die Kirche einstürzen über diesem Weibsbild!

      DIE GROSSE WELT IM TRIESTINGTAL

      »Aber, aber, Frau Susanne! Wieso denn plötzlich solch eine Zornaufwallung? Das paßt doch gar nicht zu Ihrem sonst so maßvollen Wesen! Noch dazu richtet sich Ihr Groll gegen eine Frau, die Ihnen jedenfalls nichts getan hat!«

      So oder ähnlich müßte man Frau Sedlak auf diesen unbeherrschten Ausbruch erwidern, wenn sie geneigt wäre, uns ihr Ohr zu leihen. Aber sie will ja ihr eigenes Buch nicht lesen. – Wir sind bis zu diesem Punkt mit Anteilnahme ihren Aufzeichnungen gefolgt, was nicht besagen will, daß wir uns mit der Erzählerin immer und unbedingt solidarisch fühlten, denn wir vertreten hier die Interessen der Objektivität, während es Susanne anscheinend unmöglich ist, sachlich zu bleiben. Die Regierung in diesem Buch wollen wir ihr neidlos überlassen, aber wir bestehen auf unseren demokratischen Rechten und sind jederzeit geneigt, Kritik an ihr zu üben oder gar in Opposition zu treten. Gerade jetzt scheint es uns, als hätten wir sie lange genug walten lassen und als sei der Augenblick gekommen, einige Berichtigungen einzustreuen.

      Vor allem ist sich die gute Susanne wohl nicht im klaren darüber, daß sie mit der zu Beginn geäußerten Behauptung, Ernstl nie geliebt zu haben, weit von der Wahrheit abgerückt ist. Merkwürdig. Eine so kluge und scharfsichtige Person tappt in bezug auf sich selbst dermaßen im Dunkeln! Meint sie denn, eine Beziehung müsse so aussehen wie in »Romeo und Julia«, um den Namen Liebe zu verdienen? Weiß sie denn nicht, daß auch solche menschlichen Bande, die sich durchaus nicht den Anschein geben, leidenschaftsbetont zu sein, oft verkleidete Liebesbeziehungen sind? Aber in Susannens Fall kann von einer Maskerade kaum noch die Rede sein. Allzu durchsichtig wirkt schon jetzt das Inkognito. Es gehört wahrlich ein gerütteltes Maß von Verblendung dazu, um einen so eindeutigen Krankheitsfall nicht an seinen Symptomen zu erkennen. – Heute, nach den jahrelangen Erfahrungen ihrer glücklichen Ehe, wäre sie gewiß hellsichtiger für die Tatsache, daß der liebenswürdige Mister Hopkins nicht ihre erste, sondern ihre zweite Liebe ist.

      Hätten wir die Erzählerin nicht schon früher durchschaut, so wären uns bei ihren harten und ungerechten Worten gegen Mausi die Augen aufgegangen.

      Susanne erwähnt die Sperl in ihrem Tagebuch nicht mehr. Sie ist »fertig« mit ihr. Wir aber können Mausis Jugendsünde mit dem hübschen kleinen Bauernburschen aus Berndorf nicht in so gehässigem Licht sehen, wie es die Erzählerin tut. Wäre Mausi nicht gewesen, so hätte Ernstl mit irgendeiner anderen Berndorferin den Schritt aus der Kindheit in die Jugend gesetzt. Daß es sich dabei um eine Angehörige der »gehobenen Stände« handelte, war allerdings ungünstig für ihn. Denn darin hat Susanne recht: in den ersten Erlebnissen eines jungen Burschen liegt sehr viel schicksalbestimmende Substanz. Und Ernstls gesellschaftlicher Snobismus hat hier in früher Jugend einen verhängnisvollen Nährboden gefunden.

      Wie sollte der einfache Bursche sich seinen Mißerfolg erklären? Für ihn sah die Sache so aus, daß er sich eben nicht als fein und zivilisiert genug erwiesen hatte und daher nach bürgerlicher Auffassung nicht würdig war, der kleinen Baronesse gegenüber als gleichberechtigt aufzutreten. Ein Fehlschluß, der im selben Augenblick folgenschwer zu werden begann, als Ernstl sich vornahm, den Ansprüchen der »vollkommenen Gentlemen« gerecht zu werden und nicht nur denen ihrer frühreifen Töchter.

      Es ist aber schwer zu glauben, daß dies Erlebnis in dem Sechzehnjährigen eine ganz neue, bisher nicht vorhandene Eigenschaft geweckt hat. Mit sechzehn ist man kein unbeschriebenes Blatt mehr, und die Eindrücke, die unserem Dasein Richtung geben, stammen größtenteils aus viel früheren Entwicklungsjahren.

      Hier liegt eigentlich der Hauptvorwurf, den wir der liebevollen Berichterstatterin machen müssen, nämlich: die Kindheit und Jugend ihres Helden so ganz außer acht gelassen zu haben. Die Tatsache, daß sie persönlich daran nicht teilgenommen hat, kann sie nicht entschuldigen. Sicherlich hat Ernst ihr von seiner Jugend erzählt, denn wir werden noch erfahren, daß er ihr später recht viel – möglicherweise zu viel – anvertraute. Und selbst wenn er gerade in diesem Punkt zurückhaltend gewesen sein sollte, so hätte die Kluge und herzlich Interessierte nach der Frühzeit seines Daseins fragen müssen.

      In Susannens Manuskript steht kein Wort über Ernstls Berndorfer Tage. Sicherlich hat die Erzählerin vergessen, darüber zu schreiben. Aber daß sie es vergessen konnte, ist bezeichnend. Wir wissen auch warum: aus Liebe! Genauer gesagt: aus einer Verkleidung der Liebe, nämlich aus Eifersucht, und zwar nicht bloß auf Mausi, sondern überhaupt auf alles, was Ernstl erlebt hat, ehe er Frau Sedlaks Bekanntschaft machte. Aber wenn wir Ernstl wirklich verstehen wollen, so müssen wir ihren Fehler wiedergutmachen und das von ihr »Vergessene« nachholen. In dieser Hinsicht habe ich nichts unversucht gelassen.

      Ich bin nach Berndorf gereist und habe mich nach einem ehemaligen Bewohner des Ortes, Herrn Ernst Ronasek, erkundigt. Auf dem polizeilichen Meldeamt war nicht mehr zu erfahren, als daß ein solcher tatsächlich im Juni 1905 »hierorts« geboren, bis zum September des Jahres 1921 im Hause seiner Mutter Katharina Ronasek gemeldet gewesen und dann nach Wien verzogen sei. Von den fünf älteren Geschwistern lebte keines mehr in Berndorf, und die Mutter war 1946 im Altersheim der Gemeinde gestorben.

      Ich