Talmi. Oskar Jan Tauschinski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oskar Jan Tauschinski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783990650226
Скачать книгу
»geistigen Gelegenheitsarbeiter« nannte er sich, was nicht ganz zutraf, da er des Sommers auch als Tennistrainer tätig war. Dieser geliebte Sport ging, als Beruf ausgeübt, stets über seine Kräfte, so daß er gegen Saisonende tiefliegende Augen bekam und an heftigen Migränen litt. Aber warum schreibe ich dies alles, da ich doch nur Ernstls Schicksal rekonstruieren will? – Ja natürlich, weil ich mich gerade auf dem Wege zu Aglaia befand und es sogar ziemlich eilig hatte, als ich auf der Gasse hinter mir rasche Schritte vernahm und eine bekannte, doch nicht gleich erkannte Stimme sagen hörte:

      »Oh, Sie gehen aber rasch! Ich kann Sie kaum einholen.«

      Es war mein Brotwagenchauffeur. Mit seinen vom Laufen geröteten Wangen und den windzerzausten, sehr hellblonden Locken sah er strahlend aus. Heute wirkte alles natürlich und echt an ihm. Er war der gesunde, sportliche Bursche, etwas gewöhnlich, aber sympathisch, freundlich und aufgeschlossen. Es schien unbegreiflich, daß solch lebensnahen Jüngling Traviatas Arientod zu Tränen gerührt haben sollte. Sein Trenchcoat war frisch gereinigt. Man sah darunter eine neue, hellbraune Hose aus dickem englischem Wollstoff und ebenfalls neue, modische Straßenschuhe.

      »Wie gut, daß ich Sie noch treffe«, sagte er. »Ich bin oft an Ihrem Haus vorbeigegangen, hab’ aber nicht gewagt, Sie zu besuchen. Ich hatte Ihren Namen vergessen und wollte nicht nach Ihnen fragen.«

      »Oh, das hätten Sie aber ruhig tun können«, sagte ich und empfand den Gedanken, daß er mich hatte wiedersehen wollen, wohltuend. Gleich wurde ich mir aber der Lächerlichkeit dieser Anwandlung bewußt, und ich fügte, um mich selbst zu bestrafen, hinzu: »Es gibt nur eine Bucklige im Haus.«

      Er sah mich etwas bestürzt an, so als sei er auf diese allzu direkte Antwort nicht vorbereitet gewesen. Aber er faßte sich schnell und sagte mit einem Anflug von Verlegenheit, die ganz natürlich und darum rührend klang: »Ich … ich hab halt nicht gewußt, ob sich das schickt.«

      »Alles schickt sich, was freundlich gemeint ist.«

      Sein Blick verriet mir, daß ihm diese banale Eröffnung neu war und daß er ihr keinen Glauben schenkte.

      Unweit der Piaristenkirche blieb er vor dem Schaufenster eines Antiquitätenhändlers stehen.

      »Schauen Sie«, sagte er und wies auf einen wirklich sehr hübschen Barockputto, der anachronistisch auf dem Rand eines Empireschreibtisches saß. »Ich komme fast jeden Tag hierher und stehe vor der Auslage. Ich liebe dieses Engelchen!«

      Dieser letzte Satz hatte ein wenig affektiert geklungen. Ich betrachtete meinen Begleiter von der Seite. War es möglich, daß ein junger Lastwagenfahrer für Antiquitäten schwärmte?

      Er bemerkte meinen prüfenden Blick wohl nicht, wie er überhaupt kaum noch zu wissen schien, daß ich neben ihm stand. »Wenn der so auf meinem Bücherkasten sitzen tät’ … so auf einer Ecke, wissen Sie …«

      »Haben Sie einen Bücherschrank?«

      »Nein … noch nicht«, gab er zögernd zurück. »Aber bei unserem Generaldirektor sitzt ein Engel auf der Bücherwand. Das macht einen sehr vornehmen Eindruck.«

      Ich mußte lachen.

      »Übrigens ist meiner viel, viel schöner als der beim Herrn von Scholz«, fügte er rasch hinzu.

      »Ihrer? Sie reden ja, als ob der Putto da Ihr Eigentum wäre.«

      »Wieso Putto?« Er sah mich fragend an.

      »Solche pausbäckigen Barockengelchen werden Putten genannt. Es kommt aus dem Italienischen.«

      Der junge Mann strahlte.

      »Sehr gut. Also das ist ein Barockengel und heißt Putto«, wiederholte er, als handle es sich um eine Lektion. Und dann wieder in die Unbefangenheit seiner zwanzig Jahre zurückfallend, sagte er: »Und ich hab ihn immer Wastl genannt. Finden Sie nicht, daß er Wastl heißen sollte?«

      » Ja, das paßt sogar sehr gut. Sebastian war ein häufiger Name in der Zeit, als dieser Engel geschnitzt worden ist. Übrigens war der Märtyrertod des heiligen Sebastian ebenfalls ein beliebtes Thema der Barockbildhauer.«

      Der Bursche machte große Augen. Ich hatte den Eindruck, als sei er bemüht, jedes meiner Worte, die den von ihm bewunderten Gegenstand betrafen, auswendig zu lernen. Im allgemeinen litt ich selbst unter meinen Bildungslücken und fühlte mich ganz und gar nicht dazu berufen, andere, noch weniger Gebildete zu schulmeistern. Dennoch tat es mir unleugbar wohl, daß meinen beiläufigen Äußerungen so viel Gewicht zugemessen wurde. Schließlich wandte sich mein Begleiter zum Gehen, mit einer Gebärde, als risse er sich nur schwer von dem geliebten Engel los.

      »Ich war drin«, sagte er, »und hab gefragt, was er kostet, der Putto. Aber ich kann ihn mir nicht leisten. Ich verdiene im halben Jahr nicht das, was der alte Gauner für ihn verlangt.«

      Schon vor einem Augenblick war mir die Idee gekommen, daß man ja ein solches Engelchen kopieren und diesem merkwürdigen Kunstliebhaber zum Geschenk machen könne. Ich hatte den Gedanken rasch unterdrückt, aber jetzt kleidete er sich wider mein besseres Wissen plötzlich von selbst in Sätze.

      »Das glaub ich, daß der teuer ist«, sagte ich. »Aber man könnte ja einen nachmachen; aus Ton zum Beispiel, und dann entsprechend bemalen, gleich mit recht schmutzigen und ausgeblichenen Farben, damit es wie Patina aussieht …«

      Ich erschrak über meine eigenen Worte. Das klang ja, als trüge ich mich an, diesem fremden jungen Menschen ein Geschenk zu machen. Und so schien er es auch tatsächlich aufzufassen.

      »Wirklich? Könnten Sie das? Sie würden einen Wastl für mich machen? Ganz so wie der in der Auslage? Oh, ich habe ja gewußt, daß Sie eine Künstlerin sind! Gleich beim ersten Blick hab ich das gewußt!«

      »Ganz so wie der in der Auslage würde er nicht sein. Der hier ist zweihundert Jahre alt und holzgeschnitzt, während meiner nur eine beiläufige Kopie aus Ton – also wertlos – wäre.«

      »Aber er könnte doch ebenso aussehen?«

      »Das wohl. Äußerlich und oberflächlich betrachtet – ja.«

      »Dann ist es doch egal, ob er aus Holz ist und zweihundert Jahre alt oder nicht«, gab er zurück und setzte dann weltklug hinzu: »Und wenn man den Unterschied sowieso nicht merkt, kann man jedem sagen, daß er vom Antiquitätenhändler stammt. Auf den Bücherkasten darf halt niemand hinaufklettern. Und weiß ich denn, ob der bei Herrn von Scholz echt ist? Würden Sie das erkennen?«

      Ich zuckte lachend die Schultern.

      »Ich glaube schon; wenn er nicht gar zu hoch und gar zu sehr im Dunkeln sitzt. Außerdem würde es genügen, Ihren Herrn Scholz näher anzuschauen, um zu entscheiden, ob er sich mit einer Nachbildung begnügt.«

      »Von Scholz, er ist sogar Baron!« warf er ein.

      »Ich bin entzückt, daß Sie einen so vornehmen Chef haben«, sagte ich irritiert. »Um so mehr zweifle ich daran, daß es mir gelingen würde, einen Putto zu erzeugen, der Ihrem an aristokratischen Häusern geschulten Geschmack genügen könnte.«

      Er nahm meine Hand in seine großen, etwas allzu weichen Hände. Sein Gesicht war von der Aufregung gezeichnet und wirkte jetzt wieder um Jahre älter. Auch das Jungenhafte seiner Worte hatte die Echtheit von vorhin eingebüßt und klang wie die Treuherzigkeit eines Naturburschen aus der Operette. Aber nun kannte ich meinen Begleiter schon gut genug, um zu wissen, daß er sich gerade jetzt in wirklicher Gemütsbewegung befand und daß die theatralischen Äußerungen seiner Erregung an ihm echter waren – nämlich Tieferes und Schwererwiegendes auszudrücken hatten – als die Unmittelbarkeit von vordem.

      »Bitte, bitte«, sagte er im treuherzigen Naturburschenton, »bitte, liebe, verehrte Gnädigste! Sagen Sie, daß Sie mir einen solchen Putto machen werden! Ich wäre ja so glücklich …«

      Ich war wieder einmal der Situation nicht gewachsen und ärgerte mich über mich selbst. Was war mir eingefallen, diesem fremden Jüngling etwas von meiner bildhauerischen Liebhaberei einzugestehen? Sollte ich nun gar einen Auftrag annehmen? Sollte ich für diesen Lausbuben