Talmi. Oskar Jan Tauschinski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Oskar Jan Tauschinski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783990650226
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der Pause wandte er sich dann mit überaus liebenswürdigem Lächeln zu mir und sagte:

      »Oh, verzeihen Sie, es war sehr, sehr unartig von mir! Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt.« Dabei ergriff er meine Hand mit einer etwas zu familiären Selbstverständlichkeit und küßte sie, indem er einen Namen murmelte, der wie Ronalik oder Ronecek klang. Der Handkuß selbst war ihm jedoch wiederum vollkommen gelungen. Der blonde Kopf hatte sich dabei tief hinabgeneigt, und die Lippen streiften meinen rauhen Handrücken, als gelte der Kuß einem Heiligtum.

      Ich sagte: »Sedlak. Sehr angenehm …« und fühlte, daß er meinen Namen ebenfalls nicht auffaßte. Er würde ihn wohl auch nicht verstanden haben, wenn ich ihn buchstabiert hätte, denn sein Blick war wieder zum Stehparterre hinabgeglitten, wobei das linke Auge sich um den Bruchteil einer Sekunde verspätete. Die schlanke Skiläuferin gönnte uns jedoch keinen Blick mehr. Sie schien überhaupt nur noch einen Rücken zu haben.

      Der junge Herr neben mir sprach unausgesetzt. Er deutete auf die Logen und nannte die Namen mehrerer Insassen. Es waren wohlbekannte, adelige Namen, mitunter auch die von Großindustriellen, Bankiers und Regierungsmitgliedern. Er schien die Leute alle – wenigstens vom Sehen – zu kennen und sprach von ihnen mit ungezwungener Lässigkeit wie von Gleichgestellten. Was er sagte, war weiter nicht bemerkenswert, nur wie er es tat, beschäftigte mich ein wenig. Es war ausgesprochener Dialekt, dessen er sich bediente, aber in jener verweichlichten, verzärtelten, nasalen Betonung, wie ihn Schauspieler benützen, wenn sie altösterreichische Aristokraten darstellen. Einer ungeschriebenen Bühnenkonvention zufolge schien man in den »höheren Kreisen« so zu reden. Ich konnte damals nicht beurteilen, inwiefern dies den Tatsachen entsprach. Die wenigen Aristokraten, die ich vom Geschäft her flüchtig kannte, bemühten sich alle, möglichst ungezwungen, sportlich und amerikanisch zu wirken, um nicht in den Verdacht zu kommen, mit dem Grafen Bobby der Anekdote verwandt zu sein.

      Mein junger Gastgeber war sich dieses Gefahrenmomentes sichtlich nicht bewußt. Seine breitschultrige, knabenhafte und doch schon gedrungene Sportlerfigur wirkte amerikanisch genug. Er konnte also in Gebärde und Sprache ruhig die Merkmale seiner Kaste zur Schau tragen. Denn daß es sich bei ihm um einen Angehörigen der oberen Zehntausend handelte, stand für mich nun schon fest. Auch die wesentlich gröbere rechte Hand, die ich jetzt im vollen Lampenlicht sah, konnte an dieser Meinung nichts mehr ändern. Die beiden abgebrochenen Nägel daran und die tiefen Rillen am Daumen und Zeigefinger, aus denen trotz sorgfältiger Maniküre nicht aller Schmutz zu entfernen gewesen war, deuteten darauf hin, daß der junge Mann wohl ein Motorrad, wenn nicht gar ein Kabriolett sein eigen nannte.

      Inzwischen war Traviata wieder zu Wort gekommen. Die robuste Bukaresterin mit den fleischigen Zügen opferte zuerst ihren Schmuck für den Aufwand ihres Alfredo und dann ihre Liebe selbst, um seiner unbekannten Schwester zum Eheglück zu verhelfen. Schließlich war sie, um ihren Schmerz zu betäuben, zu einem »glanzvollen Freudenfest« geeilt und dort von dem übelberatenen Geliebten eine Dirne gescholten worden. Ja, Alfred hatte sich so weit vergessen, ihr das soeben im Kartenspiel gewonnene Geld vor die Füße zu werfen. Was blieb also einer Frau vom Format der Kameliendame übrig, als an Schwindsucht zu sterben?

      Die massige Rumänin saß nun in ihrem Lehnsessel. Das große, intellektuelle Gesicht war weiß gepudert, und das rosaseidene Nachtgewand mit den Spitzen paßte schlecht zu ihren lebensvollen und zielbewußten Bewegungen. Es gehörte viel guter Wille dazu, um zu glauben, daß sie der Auszehrung zum Opfer gefallen war. Aber in ihrer Gesangskunst wurde sie dem Part gerecht. Wenn man die Augen schloß und über die verlogenen deutschen Worte hinweg den so ganz wahrhaftigen italienischen Tönen lauschte, dann wußte man um den Schmerz dieses einsamen Sterbens, um den Hoffnungsstrahl beim Anblick des reumütigen Geliebten, um die Euphorie, die dem plötzlichen Tod vorangeht.

      Ein leises Zucken neben mir ließ mich die Lider auftun. Da saß mein Nachbar, hielt den Gucker vor die Augen, und während er aufmerksam die Gebärden der dahinsiechenden Traviata verfolgte, liefen ihm Tränen über das Gesicht.

      Alles hatte ich eher erwartet als dies. Es würde mich nicht erstaunt haben, wenn er, um so recht up to date zu erscheinen, über die schwindsüchtige Karyatide spöttelnde Bemerkungen gemacht oder, ermüdet von der langen Aufführung, wohlerzogen gegähnt hätte. Aber so unverhohlene Tränen bei einem Sportsmann? – Meine Gefühle waren zwiegeteilt. Einerseits rührte es mich, daß seine junge Seele so beeindruckbar war, daß sie die Gabe hatte, sich hinreißen zu lassen, mitzugehen. Ich mußte ihm doch wohl unrecht getan haben, als ich ihn für oberflächlich und banal hielt. Wenn er das sentimentale Libretto und die vollendet interpretierte Musik nicht genau auseinanderzuhalten wußte, so lag das vielleicht nur an seiner Jugend. Aber anderseits war es auch wieder befremdlich, zu sehen, daß er gar keine Anstalten traf, seiner Rührung Herr zu werden. Auch als der Vorhang fiel und es hell wurde, zog er nicht sein Taschentuch hervor, sondern ließ die letzten Tränen unbekümmert auf seinen Wangen trocknen. Das Weinen hatte ihn auch nicht – wie zu erwarten gewesen – zum Kinde gemacht. Wie er so dastand, heftig applaudierend, wirkte sein Gesicht mit den stark geröteten Augen und den leicht geschwollenen Unterlidern, die zukünftige Tränensäcke ahnen ließen, wie das einer nicht mehr ganz jungen Frau. Übrigens schien er meinen Blick zu fühlen, denn er richtete wieder einmal mit gewandter Bühnenweltmannsgeste das Wort an mich:

      »Ich habe vergessen, Ihre Garderobe in der Pause auszulösen und hierher zu bringen. Sind Sie mir böse deswegen?«

      Ich stammelte etwas wie »Durchaus nicht!« und »Ich hol’ mir schon meinen Mantel«, aber er wollte nichts davon hören.

      »Sie erlauben doch, Gnädigste, daß ich Sie auch heimgeleite, wenn Sie mir schon die Freude Ihrer Gesellschaft gemacht haben«, sagte er, und ehe ich Zeit fand, die romanhafte Unnatürlichkeit dieses Satzes zu erfassen, gingen wir schon über Treppen und Gänge der Stehparterre-Garderobe zu. Im Gehen summte, ja sang mein Begleiter halblaut die Duettmelodie des letzten Aktes, während er in seinen hellen Überzieher schlüpfte.

      Bei der Kleiderausgabe herrschte arges Gedränge. Er nahm mir den Nummernzettel aus der Hand und stürzte sich ein wenig zu temperamentvoll in den Menschenknäuel. Ich stand wartend neben dem Spiegel. Jemand gebärdete sich so unbekümmert beim Ankleiden, daß ich einen heftigen Stoß in den Rücken abbekam. Unwillig sah ich mich um. Es war die Marille, die jedoch keine Anstalten traf, sich zu entschuldigen. Der Blick, der dem meinen begegnete, war zu zornig, um so verächtlich auszufallen, wie er gemeint war. Das nützt dir alles nichts, schienen die Augen der jungen Frau zu sagen, du hast ja doch einen Bukkel! – Dumme Gans, mußte ich meinerseits denken. Selten hat mir mein Buckel so gute Dienste geleistet. Wie müde wäre ich jetzt, hätte ich wie sonst drei Stunden lang auf den Zehenspitzen stehen müssen, um über so gerade Schultern wie die deinen hinwegzusehen!

      Aber da kam man schon mit meinem Mantel. Die Marille wandte sich brüsk ab und ging, während die Augen meines jungen Schutzherrn ihr nun mit deutlichem Triumph folgten, wobei auch jetzt das linke sich um den Bruchteil einer Sekunde hinter dem rechten verspätete.

      WER BIST DU?

       (Susannens Aufzeichnungen vom 13. März 1945)

      Ich bin gestern nicht weit mit meiner Schreiberei gekommen. Immer wieder versinkt man in Gedanken und ertappt sich dann nach einer Viertelstunde dabei, daß man tatenlos vor seinem Schreibblock sitzt. Schließlich war ich so müde, daß ich alles liegen ließ und schlafen ging. – Und doch habe ich kaum die Hälfte meiner ersten Begegnung mit Ernstl zu Papier gebracht! Also weiter, weiter, keine Zeit verlieren!

      Auf der Gasse war es empfindlich kalt – nicht anders als jetzt, da ich dies alles niederschreibe. Aber der Ring war von Bogenlampen erleuchtet und nicht von Bränden. Die Fenster der Kaffeehäuser und Geschäfte strahlten. In vielen Wohnungen brannte Licht … Heute kann ich es kaum glauben, daß dies einst selbstverständlich war.

      Übrigens muß ich morgen mit Margot in den Keller hinunter, um nachzusehen, ob wir dort nicht Notbetten aufschlagen können; vielleicht die Polsterbank aus dem Vorzimmer, die ist nicht so schwer zu tragen, und das alte Feldbett, aber das muß ich noch ausbessern. Es wird Zeit, an den Keller als Lebensraum zu denken.