Die dynastischen Regierungen der Jahrhunderte haben die Menschheit verwüstet; die Eroberungssucht und Raubgier der Monarchen haben die nationalen Schranken aufgerichtet; der Haß der Länder untereinander ist erwacht.
Der Glanz und die Macht des Thrones haben den Ehrgeiz der Schurken geweckt. Das Geld hat regiert! Man konnte sich Würden und Orden kaufen; man hatte einen Titel und war wer! Man konnte auf den anderen herabsehen: Wer bist du eigentlich?!
Und die Massen mußten für die einzelnen die Reichtümer erarbeiten. Mit den Opfern ihres Lebens und des Lebens ihrer Kinder. Von allen Staaten am schlechtesten bestellt war es um den österreichischen.
Einem Greis mit getrübtem Verstande war das Schicksal der Millionen bedenkenlos in die Hand gegeben. Die Rührseligkeit, die man einem verkalkten alten Mann durch Jahre entgegenbrachte, die Sucht, in seine Nähe zu gelangen, ihm zu gefallen, ihm zu dienen, sengte alle Energien auf, die an die Völker gewandt werden sollten. Jubiläumsfestzüge, eucharistische Kongresse, Jagdausstellungen (im Rahmen des allerhöchsten Jagdherrn) mit ihrer Unmenge von Kosten waren die größten Sorgen, die man hatte, während die Massen des Volkes wie in einem Kerker lebten.
Die Sozialdemokratie war noch jung und zaghaft. Sie hatte erst ein Lichtlein gesehen.
Es soll anders werden. Heute rückt der Sozialismus immer mehr mitten in die strahlende Sonne. Und der Sozialismus verlangt menschliche Wohnungen für alle, ein bißchen Freude, ein bißchen Ausruhen, ein bißchen Glück für alle! Und es muß endlich der Anfang gemacht werden.
Es gibt kranke, verkrüppelte Kinder, aus denen kranke, verkrüppelte Menschen werden, weil sie ohne Hilfe bleiben.
Wir haben das Schloß Schönbrunn, das das Projekt eines Unternehmens für Kinder ist. (Man denke an die herrliche Sonne der Tirolwiese.) Schönbrunn könnte eine geeignete Heilstätte für rachitische Kinder werden.
Die Ausrede, es wären keine Mittel da, gilt nicht. Es gibt angehäufte Millionen. Ohne Anarchie und ohne Bruderkrieg, bloß aus innerster Überzeungung, auf dem Wege der Vernunft, haben die Besitzer der Millionen zu einer entsprechenden Vermögensabgabe verpflichtet zu werden. In aller Güte und Freundschaft sei ihnen nur das Beispiel hingestellt: die Mutter aus der feuchten Kellerwohnung – eine von Tausenden – in grenzenlosem Hunger und Elend und ein Millionär im Übermut des Überflusses – ist das nicht ein elementares Beispiel? Müßte der Millionär sich nicht schämen seines Geldes, wenn er erführe, daß er in derselben Stadt mit verhungerten, kranken Menschen zusammenwohne, die Menschen sind, von einer Mutter geboren, wie er!
Wir haben Schönbrunn, wir haben Besitzer angehäufter Vermögen, wir haben Arbeitslose, die auf Arbeit warten; wir haben rachitische Kinder, deren kranke, erweichte Knochen nach der Sonne lechzen: Wie nahe läge da die Tat!
ZWEI DICHTER
Neues Wiener Journal, 20. März 1919
Ich war acht Jahre und ging in die Volksschule. Eines Tages kam der Herr Oberlehrer in unsere Klasse und sagte: Morgen kommt ein Dichter und wird euch Geschichten erzählen. Zieht eure Sonntagskleider an. Die Reichen haben fünf Kreuzer zu zahlen, die Ärmeren drei, die noch Ärmeren zwei und die ganz Armen brauchen gar nichts zu zahlen.
Sonntagskleid hatte ich keines. Dafür wurde mir der Ärmel geflickt. Ich weinte von sieben bis acht Uhr früh um die zwei Kreuzer, die ich dem Dichter geben wollte. Endlich bekam ich sie und lief noch mit dem letzten Schluchzen davon.
Eben gingen die Klassen hinunter in den Turnsaal, ich kam noch gerade zurecht, um mich anzuschließen.
Mehr als zweihundert Kinder waren versammelt, viele in Sonntagskleidern, aber manche nur ausgeflickt, wie ich.
Der Herr Oberlehrer selbst ging absammeln. Ich gab fiebernd vor Scham meine zwei Kreuzer her; ich hätte dem Dichter so gern drei Kreuzer gegeben. Damals fühlte ich zum erstenmal, wie schmachvoll es ist, arm zu sein.
Der Dichter war schon da. Man hatte einen Tisch in den Saal tragen lassen, einen Sessel, ein Glas Wasser.
Ja, ja: So sah ein Dichter aus, ich stand weit rückwärts und mußte auf den Fußspitzen stehen, um ihn zu sehen; aber nach und nach schlich ich näher, an der Wand hin, bis ich knapp vor ihm in der allerersten Reihe stand, bei den Großen der fünften Klasse.
Ich sah, wie der Herr Oberlehrer das Geld aus dem Hut nahm und es dem Dichter mit einer Verbeugung überreichte. Es waren lauter Kupferkreuzer. Der Dichter zog einen Lederbeutel aus der Tasche, der aussah wie ein Tabakbeutel, und tat das Geld hinein – dann begann er, uns Geschichten zu erzählen. Es kam mir wunderschön vor und ich weinte vor Rührung. An die Geschichte von dem Löwen, der im dunklen Walde, vom Hunger getrieben, für sich und seine Kinder – er sagte nicht Junge, sondern Kinder – die nichtsahnenden Schafe bei der Tränke überfiel und zerriß – an diese Geschichte erinnere ich mich noch heute; und es klang wie Glockengeläute, wenn er sagte: »Und es erschallte durch den dunklen Wald das Brüllen des Löwen, der die friedlichen Schäfchen überfallen und getötet hatte, um seinen Kindern – er sagte immer nur Kindern – den Raub in die Höhle nach Hause – er sagte nach Hause – zu bringen, damit sie ihren Hunger stillten.
Dann kam etwas Heiteres: von einem schlimmen Buben, der seinem armen kranken Nachbarn, der ihn verlangend ansah, nicht die Hälfte von seinem Mohnstrudel geben wollte. Was geschieht? Die Katze kommt und schnappt das ganze große Stück weg. Das war in Versen erzählt.
Auf mich machten diese »Dichtungen« einen mächtigen Eindruck, und damals kam es mir zum erstenmal in den Sinn, selbst kleine Erzählungen zu erfinden; die Phantasie war geweckt.
Ich sehe noch heute den Dichter vor mir, wie er dastand, sein trauriges Gesicht glänzte vor Blässe, die langen, schwarzen, angefetteten Haare und der lang herabhängende Schnurrbart gaben ihm das Aussehen eines Zigeuners aus einem Bilderbuch. Er trug ein ziemlich abgetragenes, schwarzes Feiertagsgewand mit langem Gehrock und schwarzer, fliegender Halsbinde.
Wenngleich ein Dichter war er eine recht klägliche Figur mit seinem zerknüllten alten Hut, in dem die Kreuzer eingesammelt wurden.
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