Die Welt ohne Hunger. Alfred Bratt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alfred Bratt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783903005853
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meiner Idee darzulegen. Nur soviel: es müßte ein Mittel geben, das die ursprünglichste Lebensbedingung jedes einzelnen – ohne Ausnahme – absolut und automatisch sicherstellt! Die Wissenschaft ist unsere erste Religion, sie ist das Tatsächliche: das Mittel, von dem ich spreche, müßte aus ihr hervorgehen.«

      Der Professor bewegte sich nicht.

      »… Dieses Mittel habe ich gefunden«, sagte Bell einfach.

      Das Grau der Wände war schwarz geworden. Nur dort, wie der Spiegelglanz der Fensterscheiben reflektierte, blinkte ein matter Majolikastreif.

      Ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, fühlte Bourdier, daß die Worte des Fremden keine vulgäre Utopie sein konnten. Noch vermochte er das, was er gehört hatte, auf keinerlei Weise in die Form einer greifbaren Vorstellung zu bringen. Er nahm auf, was der andere sagte, ohne eigentlich einen festen Begriff damit zu verbinden. Er hörte, ohne geistig zu sehen. Aber – so rätselhaft ihm dies war – er konnte sich nicht von dem Gefühl befreien, daß, was dieser Fremde sprach, möglich war. Daß es möglich war … weil er es sagte.

      Und es war ihm plötzlich, als hätte er diesen abendlichen Besuch schon einmal erlebt – irgendwann, irgendwo.

      Er drückte die Hände ineinander, daß die Fingergelenke hörbar knackten.

      »Und worin, mein Herr … sollte dieses Mittel bestehen?«

      Bell sah an ihm vorbei.

      »Der Haß«, sagte er, »die durch Generationen erweiterte und vererbte Kluft zwischen Arbeiter und Unternehmer, muß überbrückt werden. Wir treiben Philosophie auf jedem, selbst dem abseitigsten Gebiet. An unseren Universitäten werden die Geheimnisse der Ethik, die Lehren der Nationalökonomie getrieben. Wir errichten Heilstätten für die arbeitenden Klassen, ach ja … Wir pumpen den Männern in Maschinenhallen, Hochöfen und Eisenwalzwerken die Lungen leer, wir vergiften ihren Atem in Bleigruben, wir jagen ihnen in Kohleschächten und Glasbläsereien die Schwindsucht an den Hals. Und wenn wir den letzten schweißigen Tropfen aus ihnen gepreßt haben, wenn sie ausgedrückt sind und leer bis zum Äußersten, dann schicken wir sie zum Teufel, als Krüppel, ohne Kraft, ohne Verstand, hohle Gespenster … Sie halten die Zeit nicht für reif! … Ich kenne das Sausen der Treibriemen, das mit jeder Umdrehung ein Stück Nerv abschabt, ich kenne den Schweiß des weißglühenden Stahls. Ich kenne die geisternde Stickluft der Werkstätten, die Pest, die in die Herzkammern dringt und das Blut würgt … Der Himmel weiß, ob das aktuell ist! … Entsinnen Sie sich der Katastrophe in Wales, die vor zwei Jahren durch die Presse der ganzen Welt ging? Wissen Sie, daß innerhalb einer Minute sechshundert Leute durch jene Explosion zugrunde gingen? Und wie sie starben? Ich habe sie gesehen: mit offenen Fischmäulern und verkohlten Kiefern, mit gekochten Nieren und geplatzten Eingeweiden! … Denken Sie an den Bau der Dardanellenbrücke! An dieses Galafest der Haie! … Gewiß – diese Arbeiten sind notwendig, sie müssen ausgeführt werden. Wir brauchen sie, wie wir den elektrischen Strom und das Dynamit brauchen: für unsere Bahnen, für unsere Städte, für den Verkehr unter Wasser und in der Luft. Aber haben jene, die diesen Pflichten nachkommen, nicht auch selbstverständliche Rechte? … Vernichten Sie das herrschende System und setzen Sie ein neues an seine Stelle: beschäftigen Sie in denselben Werken zweimal, dreimal so viele Arbeiter; verdoppeln und verdreifachen Sie die Ablösungen von Tag- und Nachtschicht; vermindern Sie die Schwere und Zeit der Arbeit; erhöhen Sie die Löhne – und wir werden dieselben Dampfmaschinen und Motoren bekommen. Sagen Sie nicht, daß dies wirtschaftlich unmöglich ist; alles ist möglich, wenn man die Mittel besitzt, es zu erzwingen! Die Konzerne, die Truste werden einige Prozente weniger verdienen, wir werden die Heilstätten sperren – und das schlimmste Geschwür unserer Zeit, die Arbeitslosigkeit, wird eine Schimäre sein. – Aber dulden Sie nicht, daß Millionen in Whitechapel, in Port-Said, im Judenviertel New Yorks, in San Franzisko, in allen Gold- und Sumpfzentren der Welt vor Hunger und Dreck der Atem ausgeht. Dulden Sie nicht, daß Männer wie John Pitt in den Betongräben von Cornerhill den Streik mit Stinkbomben und schwerem Kaliber bekämpfen, daß die Arbeiter gezwungen werden, Verträge einzuhalten, die sie blind unterschrieben haben … Ich glaube nicht an die moralische oder geistige Berechtigung einzelner, über die Massen zu schreiten, die ihnen gleich geschaffen wurden … Ich glaube nur an die Masse!«

      Bell schwieg. Er war deutlich hörbar in der Stille des Raumes, wie er den Atem laut und breit in die Brust zog. Dann klang seine Stimme wieder ruhig durch die Dunkelheit.

      »Das Proletariat fordert für sich, was das Primitivste ist: das heißt das, was die Fortführung des nackten Daseins garantiert. Es fordert dies weder als Gnade noch als Lohn, sondern als etwas Primäres, das einfach da ist, wie die Natur da war, bevor wir sie zerteilten und kartellierten!«

      Und etwas gedämpfter fügte er einfach hinzu: »Mein Mittel besteht in einem Präparat, das in kondensierter Form alle Nahrung enthält, die der menschliche Körper täglich verbraucht. Es wird – durch ein womöglich internationales Monopol verstaatlicht – auf Staatskosten hergestellt und steht von Staats wegen jedermann zur Verfügung, der seiner bedarf. – Das ist alles.«

      Bell verstummte plötzlich. Er glaubte ein leises, knarrendes Geräusch gehört zu haben.

      Er blickte nach der Türe. Trotzdem der rückwärtige Teil des Laboratoriums bereits schwarz von Dämmerung war, meinte Bell ganz deutlich einen schmalen offenen Türspalt zu sehen. Und hinter diesem Spalt schwebte ein weißer Fleck, wie … ja, wie ein menschliches Gesicht.

      Es währte nur den Bruchteil einer Sekunde. Gleich darauf wandte Bell geblendet den Kopf.

      Der Professor hatte die elektrische Tischlampe angedreht.

      Die Tür war geschlossen. Kein Fleck, kein Gesicht. Nur die blanke Türklinke aus Messing schien sich noch leise zu bewegen.

      Stille. Und abermals jagte zwei Stockwerke tiefer ein Hochexpreß, knatterte Sturm und verhallte.

      Ein breiter Schatten kroch unruhig über die mattbeleuchtete Rückwand des Laboratoriums. Die seltsam geformten Gläser und Phiolen in den Schränken stießen mit ganz leisem Klirren aneinander, während hastige Schritte Thomas François Bourdier hin und wider trieben. Er hielt die Hände hinten gekreuzt und sandte verstohlene, schnelle Blicke zu Bell, der wortlos dasaß und ihn aus ernstem Gesicht ohne erkennbare Regung betrachtete. Der Professor verspürte eine Hitze im Kopf, als sei das Blut seines Körpers in einem Schwall bis in die Hirnschale gesprungen.

      Das – das war doch …! Krrrrr.

      Hol mich der Teufel – eine Idee!

      Wahrhaftig ja – das war es!

      Es schien unmöglich, die Folgen dieses Planes zu überschauen, oder selbst nur einen Teil davon auszudenken. Aber die fast unbegrenzten Möglichkeiten, die in den knappen Worten Bells enthalten waren, hatten Bourdier überwältigt.

      Eine Sekunde lang hatte er das Empfinden, als würde er gegen die Brust gedrückt und könne keinen Atem bekommen.

      Das hieße wahrhaftig, das Wirtschaftsleben an seiner Wurzel packen. Bewährte Begriffe würden einfach umgestülpt, he, und an die Luft gesetzt. Zum Lachen … Die durch Traditionen von Jahrhunderten geheiligte Maschine sozusagen altes Eisen! Das Staatsleben selbst könnte …

      Er blieb stehen und griff sich unwillkürlich an die Stirn.

      Dieser Bell sah ganz aus wie ein Mann, der weiß, was er spricht. Hier also mußte man einsetzen. Und zwar sofort! Denn das eine war Bourdier klar: der Moment war für ihn gegeben, seine Position festzustellen.

      Er warf den Kopf nach hinten, daß die Locke auf dem kahlen Kran erzitterte.

      Er ging auf seinen Platz zurück, ließ sich wieder nieder und richtete ein gewaltsam harmloses Augenzwinkern auf Bell, der schweigsam dasaß, als ginge ihn die Sache gar nichts an.

      Bourdier stockte der Atem. In seinem Kopf arbeitete es jetzt wie eine überhitzte Präzisionsmaschine. Er wußte, daß er jeden Satz dreimal wenden müsse, bevor er ihn entließ.

      Krrrr. Jawohl.

      Er hockte in seinem Armstuhl mit hochgezogenen Schultern und gab sich den Anschein,