Die Sprachlosigkeit der Fische. Margit Mössmer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Margit Mössmer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783903005693
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einem herausstehenden Holzstumpf balancierend nach oben und hielt sich am unteren Teil des Geländers fest, sodass er gerade die Füße seiner stehengebliebenen Zuschauer hätte fassen können.

      »Is it yours?«, schaute er Gerda von unten an. »There’s nothing more worthless than a button.«

      Gerda schwieg. Sie hatte Angst, er würde wütend werden, hätte die Geste der Kleinen als Beleidigung empfunden, also nahm sie die Kinder an der Hand, wobei sie die Augen immer auf ihn richtete, ihn, den sie nach so langer Zeit zum ersten Mal aus der Nähe sah, dessen Gesicht von vielem gleichzeitig erzählte und dessen Schultern schmal, aber voller Stolz in der Haltung waren. Gilbert war angestrengt vom unsicheren Stand auf dem Pfosten.

      »But …, but a button meeting a buttonhole«, fing er wieder Gleichgewicht, »… means combining textures and receiving warmth, coherence and beauty!«

      Gerda wusste nicht, ob Gilbert dumm oder ein Philosoph war. Und daher wusste sie den ganzen Weg nach Hause über, beim Nachmittagstee, abends beim Hausaufgabenmachen und während der Nacht, in der sie aus dem Fenster starrte, auch nicht, ob ihr Herz vor Anspannung oder Begeisterung rasen sollte.

      Als sie und die Kinder am nächsten Tag die Uferpromenade erreichten, winkte ihnen Gilbert, der in der Luft über einer noch nie dagewesenen Menschenmenge zu schweben schien, aus der Ferne zu.

      »Mesdames! Come closer!«, rief er wie ein schaukelnder Zirkusdompteur, der sein Publikum ins Zelt locken möchte. Als sie näher kamen, bemerkten sie, dass er nicht schwebte, sondern auf dem Dach eines riesigen Palastes aus Knöpfen stand. Eines Palastes mit großartigen Zwiebeltürmen, dicken Säulen und meterhohen Treppen, die von einer Dachterrasse auf die nächste führten, und in dessen Anlage sich Springbrunnen, Pflanzen, Elefanten und Paradiesvögel in ihrer Schönheit übertrafen. Tausende, abertausende, Millionen und Milliarden Knöpfe hatte Gilbert dafür gestapelt. Sie waren aus Plastik, stoffbezogen, mit Löchern oder Ösen, es gab Perlmuttknöpfe, Hornknöpfe, Holzknöpfe und Metallknöpfe, Knöpfe in Lila und mit bunten Streifen, Knöpfe in strahlendem Gelb, Kobaltblau und Rubinrot, poppige Knöpfe, pelzige Knöpfe und welche mit kleinen Motiven darauf, winzig kleine und tellergroße. Und sie alle spielten Bausteine in Gilberts riesigem Bau, der die vorbeifahrenden Frachtschiffe wie Spielzeugboote aussehen ließ. Bald wurde klar, dass Gilberts Einladung, den Palast zu betreten, nur Gerda und den Kindern galt. Über eine wankende Hängebrücke aus sechseckigen, knallroten Knöpfen stiegen sie von der Promenade hinunter zum Palast, während die umstehenden Leute ihren feierlichen Gang verblüfft und durchaus neidisch mitansahen. Gilbert begrüßte seine Gäste und zeigte ihnen die schönsten Ecken des Palastes. Emma durfte auf einem der Elefanten reiten, und ihre Schwester rutschte vergnügt die Zwiebeltürme hinab, während Gerda und Gilbert im Schatten der Bäume Tee tranken und sie bald wusste, warum ihr Herz raste. Sie traute sich nie, ihm zu sagen, dass es gar nicht ihr Knopf gewesen war.

       in Bled

      Als Gerda schwimmend zur Kirche Sveta Marija gelangen wollte, die trotz der beachtlichen Entfernung vom Ufer verlockend geduldig und zartrosa auf einer kleinen Insel in der Mitte des Bleder Sees lag, verlor sie einmal ihr Leben. Sie verfing sich in einer dicht gewachsenen Seerose, die sie augenblicklich auf den Grund zog. Gerda hatte schon immer vermutet, dass man von Seerosen nicht halten konnte, was man von den lieblichen Namensgleichen an Land zu halten gewohnt war. Der wässrige Rosenname, war sie sicher, verschleierte nur deren böse Absichten. Meterlange Beine stemmten die Blättermonster hier in die Tiefe und krallten sie, sich niedrigster Instinkte bedienend, in den Schlamm. Nymphaea, du ausdauernde krautige Pflanze, willst mich Romantik empfinden lassen, wo keine ist, hatte Gerda bei ihrem Spaziergang noch am Tag zuvor gedacht. Du willst mir ein Gefühl aufzwingen, dabei bist du nichts weiter als eine Narzisstin, eine Effekthascherin, die von ihrer Spiegelung lebt. Du schlachtest die Möglichkeit aus, deine Blüten zu öffnen und zu schließen, um sie erneut zu öffnen, Tag für Tag, Abend für Abend. Als wäre die Sonne daran interessiert.

      Gerda öffnete ihre Augen, um einen Weg nach draußen zu suchen. Das gletscherkalte Wasser berührte ihre Netzhaut, und sie wünschte sich eine dickere. Sie blickte nach oben und sah die gigantische steinerne Treppe, die vom Inselufer zur Kirche führte und in keiner Relation zu deren Größe stand, durch einen zittrig blaugrünen Filter. Sie schob ihr schwimmendes Haar zur Seite, das um ihr Gesicht tanzte, versuchte, den Blick zu halten, und blubberte: »Wenn mein einziger Weg hinaus über diese Treppe führt, dann helfe mir Gott.« Das war der letzte Satz, den Gerda dem Wasser schenkte. Tage, Wochen oder Monate verbrachte sie unter einer meist unbewegten Wasseroberfläche, die eine lichtdurchlässige Mauer eines riesigen Hauses war, das sie mit Seemuscheln, Zandern und anderem von nichts zu beeindruckenden Getier teilte. Es war eine große Stille, in der sie wohnte, und sie versuchte auch nicht, sich gegen diese Stille zu wehren. Sie nahm die Sprachlosigkeit mit in den Schlaf, und bei den ersten Sonnenstrahlen, die ins Wasser tauchten, mit in den Tag. Nur manchmal ließ sie sich an den Uferrand treiben, um die menschliche Stimme nicht zu vergessen, die an wenigen Stellen als verwässertes Echo von den Spazierwegen zu hören war. Worte, Laute, klatschnasses Slowenisch.

      An einem dämmrigen Dienstagabend im August zog sie der Italiener aus dem Wasser. Francesco Albani war Jahr und Tag damit beschäftigt gewesen, Dinge aus dem Wasser zu ziehen. Er fühlte keine Notwendigkeit, dem Ereignis besondere Aufmerksamkeit entgegenzubringen. Vielmehr packte er Gerda bestimmt, aber vorsichtig mit einem Arm an der Taille und legte sie auf den steinigen Boden einer kleinen Bucht, die vom Ufer aus unzugänglich war. Gerda regte sich anfangs nicht, was Albani nicht weiter beunruhigte. Er packte seinen Proviant aus der Tasche und schälte einen Apfel. Langsam warf Gerda die Wassertropfen von ihren Wimpern, indem sie ihre Lider leise hin und her bewegte. In Umrissen erkannte sie den neuen Boden, auf dem sie lag. Boden. Eine unbegreifliche Schwere bekam sie zu spüren. Albani drehte sich um und warf ihr einen Blick zu, den Gerdas nasse Augen noch nicht deuten konnten:

      »Na, kleine Nymphe, bist du schon da?«

      Sie rollte ihren nackten Körper auf einen sonnengewärmten Stein und atmete. Zum ersten Mal hörte sie den Ruf eines Vogels. Wunderbar laute Welt. Es war ein Steinadler, der über dem Triglav kreiste, einem Berg, der sich, obwohl er die Kulisse einer weitläufigen Szenerie bestimmte, seiner Vordergründigkeit nie bewusst geworden war und deshalb auch niemals eitel werden konnte.

      »Mein Leben lang tauche ich nach Fischen«, reichte Albani ihr eine Flasche Wein, die er aus einem modrigen Leinensack geholt hatte. Gerda zog an der schmalen Öffnung, noch nie zuvor war ihre Kehle ähnlich trocken gewesen. Sie suchte nach Worten, fand eine Frage, legte sie auf ihre Zunge, wo sie aber keinen Tropfen Speichel fand und zu Staub zerbröselte.

      »Das wird schon wieder … Du fragst dich bestimmt, warum ich tauche.«

      Gerda fragte sich nicht, warum er tauchte, zwinkerte aber zustimmend, ohne die Flasche abzusetzen.

      »Ich trage die ganze Welt auf meiner Netzhaut. Warum sollte ich sie nicht den Fischen zeigen?«

      Immer tauchte er mit offenen Augen, um auch keinen einzigen Fisch zu übersehen.

      »Also auch dich nicht, kleine Nymphe.«

      Er riss ihr die Flasche aus der Hand, um selbst einen ordentlichen Schluck zu nehmen. Sein Körper sei das Boot, sagte er, Augen und Hände wie Netz und Haken. Das Eisen der Fische habe sich mit der Zeit aber leider auf seinen Wimpern abgelegt und seine Tränenkanäle völlig verstopft.

      »Irgendwann werde ich blind sein, kleine Nymphe, keine Fische mehr finden und sterben.«

      Tatsächlich hatte Albani metallene Wimpern, was Gerdas Wasseraugen entgangen war. Er krachte mit seinen eisernen Augenvorhängen und warf ihr ein modriges Tuch aus seinem modrigen Sack zu.

      »Ich bin aus Neapel hierhergekommen. Vor dreißig Jahren.«

      Gerda wickelte das Tuch um ihren Körper und rieb das nasse Haar mit ihren aufgeweichten Handinnenflächen. Langsam strömten kleine Bäche aus ihren Gehörgängen, und sie konnte Albanis Worten immer besser folgen. Er erzählte eine Geschichte. Seine Geschichte. Eine Süßspeise hatte er hier in Bled erfunden. Die kremna rezina, die eigentlich trancio di crema hieß, die aber vom slowenischen