Die Ahnenpyramide. Ilse Tielsch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ilse Tielsch
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783990650127
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      ICH MÖCHTE NOCH EINMAL NACH FURTHOF FAHREN, EINMAL NOCH, sagte der Vater. Furthof ist die Heimat seiner Mutter gewesen. Wenn man so alt geworden ist wie er, hat man bei allem, was man unternimmt, das Gefühl, es sei das letztemal.

      Der Sommer in diesem Jahr war feucht gewesen, Regen im Juli, Regen im August, überall Überschwemmungen, Katastrophen. Im September war endlich die Sonne gekommen, der Herbst war warm und hell, Ende Oktober hing das Laub noch in den Bäumen, die Rasenflächen in den Parkanlagen und zwischen den Häuserblöcken der Satellitenstädte waren grün, alles war vollgesogen mit Feuchtigkeit.

      Das Wetter war immer noch schön, war, wie es häufig Ende September ist, weiße Wolken zogen über den in allen Blautönen schattierten Himmel.

      Wir unternahmen die Fahrt an einem Wochentag, der Vater und ich, wir fuhren auch nicht über die Autobahn, sondern über die Bundesstraße. Der Wienerwald leuchtete in allen Gelb- und Brauntönen. In Sankt Pölten zweigten wir ab.

      Wir wollen zuerst nach Kilb fahren, sagte der Vater. Die Häuserfassaden des winzigen Marktfleckens waren in Sonnenlicht getaucht.

      Hier hat deine Großtante gelebt, sagte der Vater und zeigte mir das Haus, ein hübsches Bürgerhaus gleich neben der Kirche. Der Vater fotografierte die Kirche, er fotografierte das Haus, er ging mit kleinen, vorsichtigen Greisenschritten hin und her, von einer Straßenseite zur anderen, er schützte die empfindlich gewordenen Augen mit vorgehaltener Hand gegen das zu grelle Licht, ließ sich Zeit mit der Einstellung der Entfernung, der Belichtung, der Blende, überlegte die Schattenwirkung.

      Das Kirchenportal, der Gasthof ZUM SEIDENSCHWAN, das Tor des Hauses, in dem die Schwester seiner Mutter mit einem Mann gelebt hatte, der ONKEL PEPI hieß.

      Helene, eine lebenslustige junge Frau, sagte der Vater, hierher verschlagen, MAN MUSS SICH DAS VORSTELLEN. Furthof war auch nicht größer, aber dort waren die Geschwister, dort war die Familie, dort war immer etwas los, DAFÜR HAT SCHON DIE MUTTER GESORGT.

      Der Onkel Pepi, EIN GUTMÜTIGER MENSCH, Postmeister und Stationsvorsteher zugleich, die Station der Mariazellerbahn. Die Züge gingen selten, sagt der Vater, zweimal im Tag, einmal hin, einmal zurück. Wenn der Zug kam, war der Onkel Pepi im Dienst, dann setzte er die rote Kappe auf und eilte zum Bahnhof. Seine Freizeit verbrachte er im Gasthof ZUM SEIDENSCHWAN.

      Helene war viel allein, sie langweilte sich, der Gemeindearzt war jung und hatte ein Motorrad mit Beiwagen.

      SIE HABEN ETWAS MITEINANDER GEHABT, sagt der Vater, DER GEMEINDEARZT UND DIE TANTE HELENE. Der Onkel Pepi hat sich, wie er es endlich erfahren hat, scheiden lassen, die Tante Helene ist nach Wien gegangen, als Beamtin der Post- und Telegraphendirektion, der Sohn ist beim Vater geblieben. Ich sah zu den Fenstern des hübschen Bürgerhauses hinüber, ich versuchte mir Helene vorzustellen, von der wir mehrere Fotografien besitzen, Helene als Kind, als Mädchen, als junge Frau, als Beamtin der Post- und Telegraphendirektion, ich dachte mir ihr schönes ovales Gesicht hinter die Scheiben eines der im ersten Stockwerk gelegenen Fenster, ich sah ihr zur Krone aufgestecktes dichtes Haar, über das sie gerne seidene Schleifen knotete, den schmalen Hals im Spitzenkragen, die dunklen Augenbrauen, den schön geschwungenen, hochmütig wirkenden Mund, ich stellte mir vor, wie sie auf den Gemeindearzt wartete, ich hörte das Motorrad knattern, ich hätte gerne eine Fotografie des Gemeindearztes gehabt, doch eine solche hat es niemals gegeben, jedenfalls keine, die im Besitz der Familie war.

      Die Tante Helene ist schon als Mädchen in Furthof Postbeamtin gewesen, POSTFRÄULEIN, sagte der Vater. In Kilb hat sie ihren Beruf nicht ausgeübt. In Kilb war Langeweile, war der Gemeindearzt mit dem Motorrad. ICH MÖCHTE NOCH EINMAL MIT DER MARIAZELLERBAHN FAHREN, sagte der Vater, EINMAL NOCH.

      Im Frühjahr, wenn du willst, können wir fahren, sagte ich.

      Wir gingen über den Platz, um das Haus herum, in welchem Helene gelebt hatte, an das Haus schloß sich ein Garten an, der Vater erkannte den Garten wieder, den Bach, der am Garten vorbeifloß. Als Sechsjähriger war er mit seinen Eltern hier gewesen und hatte seine Tante Helene besucht.

      DER REIS RUDI, sagte er plötzlich, HATTE EIN DREIRAD. Kindersehnsucht, nach beinahe achtzig Jahren wieder wach geworden, niemals ganz vergessen. Der fremde Junge damals hatte ein Dreirad, er hatte keines gehabt. Altgewordene kehren in die Kindheit zurück, der Kreis schließt sich, die Kindersehnsüchte kehren wieder. Der Reis Rudi mußte, wenn er noch lebte, fünfundachtzig Jahre alt sein, vielleicht mehr.

      Wiederbegegnung mit Orten, an denen man als Kind gewesen ist, später vielleicht noch ein oder das andere Mal, aber die Jahre dazwischen sind untergegangen, vergessen.

      In Marktl suchten wir nach dem Haus Nummer neunzehn, in dem Hermann, der Sohn des Waldübergehers, nach seiner Pensionierung gelebt hatte. Ob der Park damals schon so gewesen sei? Die alte Linde stand sicher schon, LINDEN WACHSEN NICHT SO SCHNELL.

      Der Vater fotografierte das Haus und die Linde, im Gras neben dem Weg lag ein alter Mühlstein, das Laub der Linde leuchtete gelb im einfallenden Sonnenlicht, auch die Birken vor dem Haus leuchteten.

      Mittags aßen wir in dem Gasthof, der früher anders geheißen hatte und der dem Haus Nummer neunzehn gegenüberlag.

      HIER HABEN MEINE GROSSELTERN OFT ZU MITTAG GEGESSEN. Statt der Funderplatten an der Wand mußt du dir eine Holztäfelung denken, sagte der Vater, dort, wo die Theke ist, wird ein Ofen gestanden sein, man sieht noch das Abzugsloch in der Wand. Und der Fußboden war auch nicht lackiert, den hat man mit Seifenwasser weiß gerieben.

      Wir saßen an einem Tisch, dessen Platte mit Kunststoff belegt war, von den Fußbodenbrettern war der Lack an vielen Stellen abgetreten, die abgeblätterten Stellen waren schwarz und schmutzig, auf dem Fensterbrett lagen tote Fliegen.

      DU BAUERNSAU, sagte ein Kartenspieler am Nebentisch zu seinem Nachbarn, DU VERFLUCHTE BAUERNSAU. Er trug eine schwarze Samtjacke und eine auffallend gestreifte Krawatte. Die anderen lachten.

      Der Wirt fragte nach unseren Wünschen, wir bestellten das Essen. Meine Großeltern, sagte der Vater, haben hier längere Zeit gewohnt, sie waren mit dem Fabrikanten N. befreundet. Sein Sohn müßte noch leben.

      Der ist schon lange tot, sagte der Wirt.

      Um 1893 herum muß es gewesen sein, sagte der Vater hartnäckig. Er sprach die Jahreszahl aus, als sei es vorgestern oder gestern gewesen. Der Wirt sah ihn halb belustigt, halb erstaunt an. Die Männer am Nebentisch waren plötzlich still und drehten sich neugierig nach uns um.

      Das alles betrifft mich nicht, dachte ich, als wir weiterfuhren, und es geht mich doch an. Wenn der Vater gestorben ist, wird alles, was er gewußt hat, vergessen sein.

      Das Haus in Furthof lag direkt an der Straße, neben der Feilenfabrik, es war groß, einstöckig, das in zwei Stufen abfallende Dach war mit grauen Schindeln gedeckt. Zur Eingangstür führten fünf Stufen hinauf, die Tür war von einem kleinen, eisernen Balkon überdacht, der Balkon wurde von eisernen Säulen getragen.

      MAN NANNTE ES DAS HERRENHAUS, sagte der Vater, hier war auch die Poststation untergebracht, hier hat die Postkutsche gehalten, sie ist von Schrambach gekommen, um ein Uhr mittags, glaube ich, von weitem hat man den Postfranzl auf seinem Horn blasen gehört.

      Er ging auf die andere Straßenseite hinüber, stellte sorgfältig Entfernung, Zeit, Blende ein, fotografierte das Haus von der Vorderseite, ging um das Haus herum, fotografierte es von der Rückseite, den an die Rückseite des Hauses anschließenden, früher wahrscheinlich gepflegten, jetzt verwilderten Garten.

      Hier muß es einen Springbrunnen gegeben haben, sagte er, meine Mutter hat mir davon erzählt.

      An lauen Sommerabenden sei die Familie oft im Garten beisammengesessen, der Mond habe geschienen, der Springbrunnen habe geplätschert, Hermann, der Großvater, habe einen KURZEN TSCHIBUK geraucht, den Tschibuk habe er mit schwerem türkischen Tabak gestopft. KINDER, IHR WISST NICHT, WIE SCHÖN IHR ES HIER HABT, habe er oft gesagt, auch das habe ihm, dem Vater, seine Mutter berichtet. SIE HAT IMMER EIN WENIG HEIMWEH NACH FURTHOF GEHABT.

      Ich suchte den Garten nach den Resten eines Springbrunnens ab, aber ich fand nichts, was auf die Existenz