Heimatsuchen. Ilse Tielsch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ilse Tielsch
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783990650240
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      Eine Pause entstand, gefährliches Schweigen hing in der blauen Herbstluft, Valerie stand immer noch unbeweglich, bis die Frau schließlich keifend erklärte, der Besitzer dieser Sachen käme sicherlich niemals wieder. Wenn er die Absicht gehabt hätte, wiederzukommen, oder vielmehr die Möglichkeit dazu, dann hätte er sich längst gemeldet, wenigstens seine Frau. Wahrscheinlich, fügte sie hinzu, seien die beiden längst tot.

      Sie nannte den Namen des Mannes, der ihr die Kisten anvertraut hatte, und Valerie erstarrte zum zweitenmal. Sie hatte einen Namen gehört, den sie kannte. Sie drückte den Schuh an die Brust und verließ mit raschen Schritten das Haus.

      Hier müssen familiäre Bezüge ins Gedächtnis gerufen werden.

      Eine schon einmal in B. vom Vater auf ein Blatt Papier gezeichnete, im zweiten Teil seines Lebens mühsam rekonstruierte, aus rechteckigen Kästchen gefügte Pyramide muß aus der Schreibtischlade geholt, in den Lichtkreis der Lampe gebracht, betrachtet werden.

      Annis Name im untersten Kästchen, rechts und links über ihrem Namen die Namen der Eltern, Heinrich und Valerie.

      Schräg aufwärtsgezeichnete Linien führen zu Valeries Eltern Josef und Anna, zu Heinrichs Eltern Friederike und Adalbert, dann, darübergelagert, zum oberen Blattrand aufsteigend, sich verzweigend, in ungleich langen Ausläufern endend, der große, übrige Teil der Pyramide, Namen und Namen, die einmal zu Menschen gehörten, deren Gesichter nur noch vereinzelt auf alten Fotografien festgehalten, deren Schicksale nur noch zum Teil überliefert sind. Ihre Lebensläufe, ihr Glück und ihr Unglück, die Lichtpunkte und die tragischen Verkettungen, alles, was über sie in Erfahrung zu bringen war, ist schon einmal beschrieben worden. Trotzdem muß zurückgeblickt, angeknüpft werden, wo damals nicht fortgesetzt worden ist. Der Vater hat unter dem Namen seiner Mutter Friederike auch die Namen ihrer Geschwister eingetragen: Helene, Marie und Hermann. An Helenes Namen bleiben die Augen hängen. Sie war, nach kurzer Ehe mit einem Mann, der Postmeister und Stationsvorstand der Mariazellerbahn in einer kleinen niederösterreichischen Stadt bei Sankt Pölten gewesen ist, wieder geschieden worden, mußte den Sohn seinem Vater überlassen, zog nach Wien, der Sohn wurde vom Vater erzogen, ein wahrscheinlich nicht sehr glückliches Kind, in dessen Gegenwart der Name der Mutter nicht ausgesprochen worden ist, das die Mutter nicht sehen durfte, das, als es älter wurde, wahrscheinlich von jenem furchtbaren Verbrechen erfahren hat, welches die Mutter begangen hatte: Sie hatte sich, jung, schön, lebenslustig, von ihrem Mann vernachlässigt, in den Gemeindearzt verliebt. Ihr Sohn Hans war der erste der Blutsverwandten, den Heinrich damals in W. bei Mistelbach wiedergesehen hat.

      Es ist anzunehmen, daß die Abneigung, welche die beiden Vettern füreinander empfanden, auf beiden Seiten gleich stark gewesen ist. Heinrich, schon als junger Mensch eher schwächlich, sensibel, musikalisch, Hans, dessen politische Karriere mit dem Einmarsch der deutschen Truppen in Österreich begann, da war kein Raum für ein längeres Gespräch, da konnte man sich auch aus Gründen verwandtschaftlicher Beziehung nicht füreinander erwärmen. Kaum denkbar jedenfalls, daß sich Heinrich, wäre der andere in seiner Situation gewesen, ähnlich verhalten hätte, wie Hans sich verhielt.

      Ich, Anna, versuche mir vorzustellen, wie die von der Mutter mehrfach geschilderte Begegnung der Vettern damals, im Herbst 1945, verlaufen ist.

      Ein Wagen mit niederösterreichischer Nummer hielt vor dem Nachbarhaus, zwei Männer stiegen aus, Valerie, durch das Fenster auf die Straße blickend, konnte gerade noch beobachten, wie sie im Haus verschwanden. Kurz darauf Männer- und Frauenstimmen, die keifende Stimme der Nachbarsfrau, dann wurde nebenan die Haustür geöffnet und wieder zugeschlagen, dann öffnete sich die eigene Haustür, die Zimmertür.

      Heinrich, der auf einem der beiden Sessel beim Tisch gesessen war, stand auf, ging einen Schritt auf den Vetter zu, blieb dann stehen, hob zaghaft die Hand, um sie dem Verwandten entgegenzustrecken, ließ die Hand wieder sinken, schien plötzlich noch kleiner, noch schmächtiger unter dem Blick des anderen, der sich von der Türschwelle nicht wegbewegte, ihn nicht grüßte, Valerie überhaupt nicht beachtete, nach einem Blick auf Heinrichs Füße nur einen einzigen Satz sprach: ZIEH SOFORT DIESE SCHUHE AUS!

      Kein Zweifel, sagt die Mutter, daß die Nachbarsfrau Hans die Geschichte mit den Schuhen anders berichtet hat, als sie sich zugetragen hat. Kein Zweifel darüber, daß sie, um vielleicht von der eigenen Schuld abzulenken, darauf hingewiesen hat, daß im Nachbarhaus jemand wohne, der ein Paar Schuhe mitgenommen, sich angeeignet habe. Hans jedenfalls sei nur herübergekommen, um diese Schuhe abzuholen.

      Die Vettern einander gegenüberstehend. Der eine, der, von einem bestimmten Zeitpunkt an, immer nur die Uniform seiner Partei getragen hatte, EIN VOLK, EIN REICH, EIN FÜHRER, der zu jenen gehört hatte, die an keiner Front gekämpft hatten, bis zuletzt noch Geschichten vom Endsieg erzählten, der auch dann, als seine Sprüche sich nicht erfüllt hatten, durch die Maschen geschlüpft war, vermutlich nach kurzer Haft wieder in Freiheit gesetzt worden war, der nun gekommen war, seine im richtigen Zeitpunkt verlagerten Sachen abzuholen. Der andere, der Uniformen gehaßt hatte, der nur auf zwei Fotografien uniformtragend zu sehen ist: einmal mit großen, erschrockenen Augen im vom Hunger und Malariafieber ausgezehrten, faltig geschrumpften Gesicht als Sanitäter der österreichischen Armee gegen Ende des Ersten Weltkriegs, das andere Mal als Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr der jenseits der österreichischen Grenze im Südmährischen gelegenen Kleinstadt B. Heinrich, der schließlich zu seinem Sessel zurückkehrt, sich niedersetzt, mit Fingern, die immer ein wenig gezittert haben, Schuhbänder aufschnürt, die Schuhe auszieht, sie wortlos dem Vetter reicht. Hans, der die Schuhe in Empfang nimmt, sich umdreht, die Zimmertür zuschlägt, grußlos das Haus verläßt.

      Heinrich und Valerie, die im Zimmer zurückbleiben, wortlos einander gegenübersitzend, die wenig später, nachdem im Nachbarhaus wiederum laute Stimmen zu hören gewesen sind, vernehmen, wie der Motor des vor dem Haus geparkten Wagens anspringt, wie der Wagen sich entfernt, die dem Motorgeräusch nachhorchen, das sich, immer leiser werdend, schließlich in der Ferne verliert.

      Irgend jemand hat dem Doktor, der keine Schuhe hatte, ein Paar alte Gummistiefel gegeben. Sie waren um eine Nummer zu klein. Valerie tauschte sie in der SCHUHUMTAUSCHSTELLE DES FRAUENAKTIONSKOMITEES DER SOZIALISTISCHEN PARTEI MISTELBACHS gegen andere, ebenso alte, jedoch passende Gummistiefel um.

      (Hans, sagt die Mutter, ist einer von denen gewesen, die es zu allen Zeiten gegeben hat, die es immer verstanden haben, sich einzurichten, die IMMER DAVONGEKOMMEN SIND. Ein anderer Verwandter Heinrichs, der nur einfaches Mitglied der Partei gewesen war wie viele andere, die gefürchtet hatten, sie würden, wenn sie sich weigerten, ihre berufliche Position, ihre Familie, ihre Kinder gefährden, hat sich, wenige Tage vor dem Ende des Krieges, zusammen mit seiner Frau und seinen fünf Kindern das Leben genommen. DIE KINDER HABEN SIE MITGENOMMEN, sagt die Mutter, sie meint: in den Tod.

      Auch Heinrich trug gegen Ende des Krieges immer eine Dosis eines rasch wirkenden Giftes für sich und seine Familie bei sich, die Mutter hat das gewußt, Anni wußte es nicht.)

      Oktober: Das ist der Monat, in dem sich das Weinlaub auf den Hügeln rot und gelb zu färben beginnt. Die ledrigen Blätter der Nußbäume trocknen von den Rändern her ein, in den Lindenbäumen leuchtet das erste Hellgelb, die gefiederten Blattrispen der Akazien weinen die ersten gelben Tränen. Die ganze kleine Stadt B. hatte um diese Zeit nach Maische gerochen, die ausgepreßten Traubenbälge waren in braunen Haufen neben den Kellern gelegen, der Most hatte sich milchig verfärbt. In den Hausgärten hatten die Dahlien geblüht. Über den seidenblauen Himmel hatte der Herbstwind in allen Farben leuchtende Wolken getrieben.

      Erinnerst du dich, sagt die Mutter, wie schön es um diese Zeit zu Hause gewesen ist. Nun malt sie die Vergangenheit doch in sanften Farben, das Böse, Dunkle spart sie aus. Wie die Maiskolben zu großen Haufen geschichtet in den Vorhäusern der Bauernhöfe gelegen sind, erzählt die Mutter, wie sich die Alten und die Jungen an den Abenden versammelt haben, um die Kolben aus den Blättern zu schälen, wie man einander Geschichten erzählte, Lieder sang, die neuesten Liebesgeschichten besprach. WIE LUSTIG es damals gewesen sei. Die jungen Leute können heute gar nicht mehr richtig lachen, sagt die Mutter. Und sie singen auch nicht mehr. WAS WIR FÜR LIEDER GEKANNT HABEN. Wieso das heute so anders geworden ist?

      Anfang Oktober