Heimatsuchen. Ilse Tielsch. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ilse Tielsch
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783990650240
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zu können, immer nur an dieses kleine Haus und an die in diesem Haus lebende Frau gedacht hatte, immer nur an diesen winzigen, auf keiner Landkarte auffindbaren Ort, der diese wenigen Quadratmeter ummauerten Raums gemeint hatte, wenn er das Wort HEIMAT aussprach oder dachte, dessen ganzes Denken auf diesen einen, einzigen Punkt fixiert gewesen war, sah sich um alles betrogen, was er für wiedersehenswert gehalten hatte. Er versuchte erst gar nicht, wenigstens einen Teil davon zurückzubekommen, was sein gutes Recht gewesen wäre, er war während der letzten Monate an Rückzug gewöhnt worden und setzte nun diesen Rückzug widerspruchslos fort.

      Er ging nicht weit, nur bis zum nächsten Wäldchen, dort legte er seinen Tornister ins Gras, knüpfte einen Riemen an den Ast einer Akazie und erhängte sich.

      5

      Niemand von den heute noch Lebenden, die ich, Anna, danach gefragt habe, erinnert sich daran, ob die Vorhersage des Salzburger Wetterforschers eingetroffen ist, der für den 10. September 1945 eine merkwürdige Himmelserscheinung prophezeit hatte: Der an diesem Tag in Sonnennähe weilende Merkur würde einen Vorgang bewirken, den die Anhänger der Welteislehre mit dem paradoxen Satz DIE SONNE SCHNEIT beschrieben hätten. Die Erklärung dafür: Bei einer kurzen vorhergehenden Erwärmung eines schwachen gewittrigen Niederschlags oder bei der einem Niederschlag folgenden Abkühlung kann ein Anflug von Höhenschnee eintreten. Dieses von der Sonne verursachte Phänomen könne jedoch nicht nur durch Zustrahlung von Feineis, sondern auch DURCH DIE IRDISCHE WETTERMASCHINE, die eine erhöhte Elektronenausstrahlung auszulösen imstande sei, erklärt werden.

      Das Wetter im frühen Herbst, heißt es allgemein, sei verhältnismäßig schön und vor allem warm gewesen. Dies ist, weil es wichtig war, im Gedächtnis geblieben. Keine Unwetter, keine kotigen, aufgeweichten Straßen und Feldwege, keine vom Regen durchnäßten Schuhe und Kleider. Erst der Oktober brachte Kälte und Wind, erst jene, die zugleich mit Hedwig und ihrer Familie unterwegs gewesen sind, haben unter schlechtem Wetter zu leiden gehabt. Anfang September gab es noch Nächte, in denen man am Rand eines Wäldchens oder einfach auf freiem Feld schlafen konnte, ein Kleiderbündel unter dem Kopf, die Kinder mit einer Jacke oder einem Mantel zugedeckt, auf einem mit Klaubholz genährten Feuerchen konnte man eine Suppe wärmen, in der Glut konnten Kartoffeln gebraten werden. Daß die Wege trocken waren, daß die Sonne noch warm vom Himmel schien, war wichtig, sonst nichts.

      Wer ein Dach über dem Kopf hatte, wer geborgen war, wer sich dafür interessierte, was in der Welt geschah, konnte nun schon aus Zeitungen erfahren, was jene auf den Straßen Dahinziehenden nicht interessierte: Daß etwa in den ersten Septembertagen in einem Nürnberger Keller die Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reiches aufgefunden worden war; oder daß von offizieller Seite betont worden sei, die Vereinigten Staaten hätten beschlossen, DAS GEHEIMNIS DER ATOMBOMBE NICHT PREISZUGEBEN, es würde nie zu anderen Zwecken verwendet werden als zur Erhaltung des Weltfriedens; oder daß sich in der englischen Presse warnende Stimmen äußerten, es sei nicht ratsam, Korea unmittelbar nach seiner Befreiung aus der japanischen Sklaverei seine Unabhängigkeit zu garantieren, indem man dem Volk volle Autonomie gewähre. Vielleicht haben Heinrich und Valerie jene Meldung gelesen, in welcher berichtet wird, daß eine Abordnung englischer Kirchenfürsten bei Englands Premierminister Attlee vorgesprochen und um Milderung DES BEKLAGENSWERTEN LOSES DER DEUTSCHEN FLÜCHTLINGE AUS POLEN UND DER TSCHECHOSLOWAKEI gebeten hätten. Premierminister Attlee erklärte, daß sich die britische Regierung mit der Flüchtlingsfrage ernsthaft befasse. Sie tue ihr Möglichstes, um die Schwierigkeiten zu überwinden, denen Europa im kommenden Winter entgegenstehe. In der BERLINER KONFERENZ habe man sich bereits auf Maßnahmen geeinigt und bis zur Beschlußfassung durch den Alliierten Rat in Deutschland weitere Ausweisungen von Deutschen verhindert.

      Auch die Erklärung des tschechischen Staatspräsidenten Benesch zur Frage der Ausweisung der Deutschen werden sie vielleicht zur Kenntnis genommen haben, daß es mit der deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei NUR UNÜBERBRÜCKBARE KOMPLIKATIONEN BEI DER DURCHFÜHRUNG EINER GEORDNETEN STAATSFÜHRUNG geben würde. Dieses Problem müsse im Einvernehmen mit den Großmächten geregelt werden. Oder: Obwohl zwischen den Ländern Österreich und Tschechoslowakei keine offiziellen Beziehungen bestünden, seien die tschechischen Behörden doch bereit, den tschechischen Staatsbürger österreichischer Nationalität ANDERS ALS DEN DEUTSCHEN UND DEUTSCHSPRACHIGEN TSCHECHEN zu behandeln. Zum Unterschied zu den Deutschen würden die Österreicher DIE GLEICHEN LEBENSMITTELKARTEN WIE DIE TSCHECHEN erhalten.

      (Besonders jene zuletzt zitierte Bemerkung, die darauf hinwies, daß die noch in der Tschechoslowakei lebenden Deutschen nur unzureichend mit Nahrungsmitteln versorgt würden, wird Heinrich mit großer Besorgnis erfüllt haben. Er hatte noch keinerlei Nachricht von seiner alten Mutter, die in Mährisch Trübau geblieben war.)

      Am 12. September kam Heinrich von einem Krankenbesuch nach Hause und legte eine Zeitung auf den Tisch. Die Wiener Staatsoper, hieß es darin, das künstlerische Zentrum der Stadt Wien und damit ganz Österreichs, würde wieder aufgebaut werden.

      Dem Baukomitee seien in den vergangenen Tagen von sowjetischer Seite zur Verfügung gestellt worden: zwei Millionen Schilling in bar, eineinhalb Millionen Ziegelsteine, dreihundert Tonnen Zement, dreißig Tonnen Dachblech, zweihundert Tonnen Stahlträger, vierhundertfünfzig Tonnen Stahl und Eisenarmaturen, zwanzig Tonnen Farbe und sieben Lastkraftwagen.

      (Was der Wiederaufbau der rund dreißigtausend zerstörten oder schwer beschädigten Gebäude in Wien insgesamt kosten würde, konnte Anni in einer anderen, in Linz erscheinenden Zeitung lesen. Es würden etwa fünf Millionen Dollar zur Deckung der Kosten nötig sein. Man rechnete mit fünfundsiebzig bis achtzig Millionen Dachziegeln, ebensovielen Quadratfuß Glas, dreihundert Millionen Ziegelsteinen, dreihunderttausend Kubikmetern Holz, zwölftausend Tonnen Baustahl, zweihunderttausend Tonnen Zement. Außerdem würden achtzehntausend Kilogramm Leim und etwa neuntausend Tonnen Gips benötigt werden, der Wiederaufbau würde voraussichtlich sieben bis zehn Jahre in Anspruch nehmen.)

      Es ist anzunehmen, daß die Meldung über den geplanten Wiederaufbau der Staatsoper Heinrich trotz (oder gerade wegen!) der alles andere als erfreulichen Situation, in der er sich zur Zeit befand, trotz (oder gerade wegen!) der Armut, in der er lebte, in besonderer Weise beschäftigt hat. Er wird durch diese Meldung in vielerlei Hinsicht an sein früheres Leben, an seine Jugend erinnert worden sein. Er wird an seine Studentenjahre in Wien gedacht haben, in denen er auch gehungert, trotzdem davon geträumt hatte, in der MUSIK- UND THEATERSTADT WIEN bleiben, dort leben zu dürfen. Der Wunsch wird in ihm wachgeworden sein, sich diesen Traum wenigstens jetzt, im zweiten Teil seines entzweigeschnittenen Lebens, zu erfüllen.

      Schon Friederike, geboren im niederösterreichischen Furthof, Tochter des Feilenfabrikdirektors, der als Waisenkind in Prag Semmeln und Brot vor die Türen der Bürgerhäuser getragen hatte, schon Heinrichs Mutter also, hatte von Wien geträumt, später die viel kleinere Stadt Brünn des Theaters wegen als Ersatz hingenommen, Boskowitz, wohin ihr Ehemann versetzt worden war, gehaßt, Mährisch Trübau als eine Art Exil empfunden, in das man sie verbannt hatte, das sie angeblich niemals lieben konnte. (Später, wieder in Österreich lebend, hat sie immer Heimweh nach Mährisch Trübau gehabt!)

      Schon Friederikes Mutter Amalia, Tochter des Mürzhofner Erbpostmeisters, hat in ihrem Tagebuch Wienbesuche als besondere Festtage eingetragen, schon Amalias Vater, vor dessen Gasthof die aus Wien kommenden Postkutschen hielten, reiste von Zeit zu Zeit gerne nach Wien, wie Amalia ihrer Tochter Friederike, diese wieder ihrem Sohn Heinrich berichtet hat.

      In Heinrich erwachte der Wunsch seiner Jugendjahre nicht nur neu, er war stärker als zuvor. Aber nie war die Entfernung zwischen seinem Wohnsitz und dieser Stadt, in der er so gerne gelebt hätte, größer gewesen als jetzt, nie war die Aussicht auf eine mögliche Erfüllung seines Traumes geringer gewesen. Was für Anni galt, galt selbstverständlich auch für ihn, und es galt auch für Valerie. Er war ein Nichts, ein Niemand, ein Mensch, der nirgends mehr hingehörte. Wenn der Arzt, der vor der näherkommenden Front die Flucht ergriffen hatte, zurückkam, würde ihn auch hier im Dorf niemand mehr haben wollen, niemand mehr brauchen, er würde weiterziehen, das Land verlassen müssen. Das neue Gesetz sah die Verleihung der österreichischen Staatsbürgerschaft nur in Fällen von besonderem Staatsinteresse vor.

      Nach