„Und die Erinnerungen daran sind unschön. Nun, in diese Stadt ziehst du nicht gefesselt und hinter einem Pferd herlaufend ein, sondern als freie Frau. Diese Stadt wird dich willkommen heißen.“
„Bist du dir dessen sicher?“
„Allerdings.“ Meitor treibt die Pferde, die angehalten haben, wieder an. „Und im Moment wissen die Bewohner sowieso noch nichts über dich. Sie werden dich kaum bemerken.“
„Das ist auch gut so.“
„Morgen allerdings werden alle wissen, dass der König dich geküsst hat“, bemerkt Meitor grinsend.
Ich deute einen Schlag gegen seine Schulter an, er lacht laut auf. Ich lache mit, das hilft mir. Ich spüre, dass meine Unruhe nachlässt.
„Danke, Meitor.“
„Gern geschehen!“
Meitor hat recht, niemand achtet auf mich. Zuerst erreichen wir die Felder. Hier wird Gemüse angebaut, erklärt mir Meitor. Sie sind wichtig, um die Leute zu ernähren. Die Felder gehören dem König, doch Askan sei ein weiser und gerechter König, er sorgt dafür, dass niemand hungern muss. Das finde ich gut.
„Ist es denn nicht selbstverständlich, dass ein König für seine Leute sorgt?“, erkundige ich mich.
„Oh, da gibt es ganz andere“, erwidert Meitor düster. „Das wirst du schon noch früh genug merken.“ Mehr will er dazu nicht sagen.
Ich beobachte die Menschen, die auf den Feldern arbeiten. Es sind vor allem Männer, junge, kräftige Männer. Sie schauen hoch, als sie uns bemerken, einige winken. Die Soldaten winken zurück, ich irgendwann auch.
Dann passieren wir die ersten Häuser. Zuerst stehen sie noch weit auseinander, mit großen Höfen. Dann werden es mehr, auf beiden Seiten der Straße, und die Höfe kleiner. Bis die Häuser gar keine Höfe mehr haben, höchstens kleine Gärten, wie mir Meitor erklärt.
Schließlich erreichen wir den riesigen Marktplatz. Heute ist kein Markt, er findet immer an der Num nach dem Regen statt, weil dann die Ernte besonders gut ist. Das war also gestern. Doch auch jetzt sind hier viele Menschen, von denen einige uns betrachten.
„Es ist ungewöhnlich, dass der Wagen nicht zusammen mit dem König hier ankommt“, erklärt mir Meitor.
„Ich bin ja auch ungewöhnlich.“
„Wohl wahr“, sagt er und lacht wieder.
Nach einiger Zeit scheinen wir die Stadt wieder zu verlassen. Meitor zeigt nach vorne auf den Wald, den ich von Weitem schon erkennen konnte.
„Da drin, auf einer Anhöhe ist das Schloss. Wir sind gleich da!“
Mein Herz macht einen Sprung. Ich blicke zurück und versuche, den Anblick der Stadt in mich aufzusaugen. Dann drehe ich mich wieder nach vorne. Der Weg windet sich durch den Wald empor, bis schließlich unvermittelt eine Brücke vor uns auftaucht, die zu einem gewaltigen Tor führt.
„Versuche niemals, durch den Fluss zu schwimmen“, sagt Meitor ernst. „Du würdest es nicht überleben.“
„Wieso nicht?“
„Er dient dem Schutz. Die Wesen darin fressen dich auf, bevor du den Mund aufmachen kannst.“
Ich erschaudere und versuche einen Blick auf das Wasser zu erhaschen. Es sieht aus wie jeder Fluss.
„Man sieht sie nicht. Aber man spürt sie. Jedenfalls ganz kurz.“
„Ich werde mich von dem Fluss fernhalten“, verspreche ich.
Dann fahren wir durch das Tor.
Vor mir offenbart sich ein riesiger Platz, dessen Mitte ein gewaltiger Steinbrunnen einnimmt. Die Mauer verläuft zu beiden Seiten und verschwindet an den Mauern von Gebäuden. Doch das mächtigste Gebäude liegt direkt vor uns, wenn man den Brunnen nicht berücksichtigt.
„Askans Schloss“, sagt Meitor grinsend, als sie meinen offenen Mund bemerkt. „Sieht ganz schön groß aus, oder?“
„Allerdings!“
Wie viele Stockwerke mag es haben? Bestimmt zehn. Den Haupteingang bildet ein Tor mit zwei Flügeln, die beide offen stehen. Eine breite Treppe führt zu ihm hinauf. Mehrere Wachen stehen davor.
Und Gaskama.
Meitor hält den Wagen vor der Treppe an. Gaskama kommt zu uns und hilft mir, vom Wagen zu steigen. Eigentlich bräuchte ich diese Hilfe nicht und sonst macht Gaskama das nie, aber ich habe das Gefühl, es ist jetzt wichtig, deswegen lasse ich mir helfen.
„Der Hofstaat beobachtet dich aus den Fenstern“, sagt Gaskama leise. „Es ist hilfreich, wenn du einige Dinge anders machst, als du es gewohnt bist. Lass dich von mir führen.“
„In Ordnung. Wo ist Askan?“
„In einer Kabinettssitzung. Er hat darum gebeten, dass du erst ein Kleid anziehst, bevor er dich seinen Ministern vorstellt.“
Ich schließe kurz die Augen. Zwar habe ich keine Ahnung, was ein Minister macht, aber sie scheinen wichtig zu sein, wenn Askan so eine Bitte äußert. Eigentlich ist es ja auch keine Bitte, egal wie Askan es formuliert hat.
Ich nicke also und folge Gaskama die Stufen hinauf und in das Schloss.
Hier stockt mir erneut der Atem. Durch das Tor gelangen wir in eine Halle, die mir größer zu sein scheint als Lord Sakumos gesamtes Schloss. Zu beiden Seiten führen Treppen nach oben, geschwungen in einem Bogen. Gegenüber dem Tor befindet sich eine Tür, die jetzt offen steht und einen Saal dahinter erkennen lässt.
„Der öffentliche Sitzungssaal, in dem Askan das Volk empfängt“, erklärt Gaskama. „Folge mir.“
Wir gehen nach rechts und dann durch einen langen, breiten Korridor, von dem einige Türen abgehen, die alle verschlossen sind. Fackeln an den Wänden vertreiben die Dunkelheit.
Gaskama bleibt schließlich vor einer Tür stehen, öffnet sie und lässt mich vortreten. Der Raum dahinter ist vermutlich groß, aber so genau kann ich das nicht erkennen, denn er ist voll mit Schränken, in den sich Kleider befinden.
Sehr viele Kleider.
„Die Kleider gehörten Askans Frau“, sagt Gaskama.
Ich fahre herum.
„Sie ist bereits vor sehr vielen Numoas gestorben, als sie ihm ein Kind gebären wollte. Beide sind dabei gestorben. Es hat lange gedauert, bis Askan wieder lächeln konnte. Sie hatte ungefähr deine Größe, such dir bitte ein Kleid aus.“
„Ich soll …?“
Er nickt.
„Aber ich weiß doch gar nicht, welches Kleid ich anziehen soll! Es sind ja … ziemlich viele!“
Gaskama mustert mich, dann winkt er mir zu und hält auf irgendeinen Schrank zu. Das heißt, er scheint genau zu wissen, wo er hin will, aber für mich ist das einfach nur einer von sehr vielen Schränken mit Kleidern darin.
Nach kurzem Überlegen zieht Gaskama ein Kleid hervor und hält es mir hin. Dann zeigt er auf den Boden des Schranks.
„Da findest du passende Schuhe dazu. Sag Bescheid, wenn du fertig bist.“
„Ich … ich soll das allein anziehen?“
„Du möchtest sicher nicht, dass ich dich nackt sehe.“
Damit hat er allerdings recht, also nicke ich nur stumm. Nachdem er sich entfernt hat, betrachte ich das Kleid. Grundsätzlich ist es nicht anders als die Kleider, die ich früher trug. Es ist nur dicker, es ist verziert, es ist komplizierter. Aber es ist ein Kleid mit einem Oberteil und einem Unterteil. Ich kann erkennen, wo mein Kopf hindurch kommt, wo meine Arme hingehören und demzufolge steht es auch fest, wo ich meine Beine hindurch stecken muss.
Seufzend