Frühling auf Huntington Castle. Imelda Arran . Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Imelda Arran
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783937013336
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wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf...“

      „Nein, Matti, darfst du nicht. Und jetzt komm. Ich weiß, du bist sicher enttäuscht, dass du keine neuen Kleider bekommen hast, aber wir wissen nicht, wie lange wir bis nach Huntington brauchen, und unsere Geldmittel sind begrenzt, wie du weißt.“

      Madeleine schaute ihm nach, wie er davonstolzierte. Er hatte seine Erscheinung zu allem Überfluss mit einem Spazierstock garniert, den er unternehmungslustig schwenkte. ‚Nicht auffallen, um keinen Preis!’ dachte Madeleine und folgte ihm.

      Da es schon vier Uhr war, machten sie sich nun auf die Suche nach einer Postkutsche für den kommenden Tag. Sie erfuhren, dass eine Kutsche morgens um acht nach Canterbury abfuhr, und Xavier buchte zwei Plätze - beide im Inneren der Kutsche, nachdem Madeleine ihn böse angeschaut hatte.

      „Mein Onkel wird es sehr zu schätzen wissen, wenn Sie mich lebendig bei ihm abliefern“, knurrte sie. „Es sieht nach Regen aus, und ich möchte nicht im Regen auf dem Dach der Kutsche sitzen.“

      „Du hast Glück, Bursche, dass ich ein so gütiger Herr bin“, erwiderte Xavier gereizt. „Wenn ich uns jetzt eine Bleibe für die Nacht suche, will ich keinerlei Einwände hören.“

      Doch Xavier musste sich Einwände anhören, da er ein Zimmer gebucht hatte, das sie sich mit mehreren Menschen teilen mussten, die weder parfümiert noch leise waren. Madeleine wagte nicht, laut loszuschimpfen, wie sie es sehr gerne getan hätte, aber der Blick, den sie ihm zuwarf, war beredt genug. Und als Xavier dann zudem darauf bestand, dass er in dem Bett schlief und Madeleine auf dem Boden davor, war es für sie endgültig vorbei.

      „Mein Onkel wird Sie vierteilen, Xavier! Das schwöre ich Ihnen!“ zischte sie, als sie sich mit nichts weiter zudeckte als ihrer zerschlissenen Jacke.

      „Die Kutsche kostet lächerlich wenig, Xavier“, äffte er böse ihre Worte nach, um dann gleich in einen eisigen Ton zu fallen. „Was glaubt Ihr eigentlich was Geld wert ist? Habt Ihr eine Ahnung, was lächerlich wenig bedeutet? Für uns bedeutet das im Moment richtig viel Geld.Wir werden es uns vielleicht gar nicht leisten können, den Weg bis zu Eurem Onkel in einer Kutsche zurückzulegen, denn wir haben nur das, was wir bei uns haben. Ihr könnt nicht mehr zu Eurem Vater gehen und ihn um mehr Geld bitten. Und er kann nicht mehr in sämtliche Taschen seiner Untertanen greifen, bis er die letzten Krümel daraus hervorgestohlen hat.Wir haben nur sehr wenig Geld. Im Vergleich zu vorher seid Ihr arm wie eine Kirchenmaus.“

      Madeleine war sprachlos. In dieser Weise hatte noch niemals jemand mit ihr gesprochen. Niemals! Und schon gar nicht ein Diener. Sie war ihm hilflos ausgeliefert. Das war ihr nun schmerzhaft klar.

      Sie konnte lange nicht schlafen. Was war nur los mit Xavier? In Frankreich hatte er sie getröstet, war fürsorglich und freundlich gewesen. Er hatte den Englisch-Unterricht nicht nur geschätzt, sondern genossen. Alles hatte er sie gefragt, hatte ihre Gedanken auf glückliche Zeiten gelenkt, sich für jedes Detail ihrer Familie interessiert und sie erzählen lassen. Gemeinsam hatten sie die Briefe aus Huntington gelesen und dabei Freude gehabt.War er wirklich so besorgt um ihre Sicherheit? Wäre es denn so schrecklich gefährlich, wenn man bemerkte, dass sie ein Mädchen war? Dass sie hier auf dem Boden schlafen musste, ging entschieden zu weit. Er hatte sie zwar gerettet und sie war ihm dafür zu großem Dank verpflichtet, aber ob sie bei ihrem Onkel ein allzu gutes Wort für ihn einlegen würde, musste sie sich noch überlegen. Sollte sie fliehen? Ohne ihn weitergehen? Xavier hatte das Geld. Nachts legte er den Beutel unter sein Kopfkissen. Sie konnte es ihm also unmöglich stehlen. Aber ohne Geld würde sie nicht weit kommen. Sie kannte den Weg nicht, der Weg war noch weit und sie war nur vertraut mit den Gepflogenheiten des Adels. Sie hatte während der Kutschfahrten schon bemerkt, dass die Menschen des einfachen Volkes anders sprachen als ihre Mutter. Sie unterhielten sich über Dinge, von denen Madeleine nichts verstand, in einem Akzent, den sie noch viel weniger verstand.Wenn sie also alleine bestehen wollte, müsste sie so reden wie diese Menschen.Vielleicht konnte sie Xavier doch noch den einen oder anderen Taler stibitzen oder ihn sogar direkt um Geld bitten, damit sie als Bursche Besorgungen für ihn machen könne. - Aber darauf würde er nicht hereinfallen.Wie gebildet und weltgewandt hatte sie sich immer gefühlt, wenn sie mit ihrer Mutter die neusten Weisen gespielt oder die Modejournale aus Paris studiert hatte. Ihre Welt existierte nicht mehr, und die Welt, in der sie sich bewegte, war nicht ihre. Wenn ihr Vater wüsste, dass sie auf dem Boden lag vor einem Bett, in dem sein Leibdiener schlief... Der Gedanke an ihre Eltern schnürte Madeleine die Kehle zu. Immer wieder trat das schreckliche Bild vor ihre Augen: ihre Familie, aufgehängt in dem Baum vor ihrem eigenen Schloss. So tief hatte sich dieses Bild in ihr Gedächtnis gebrannt, dass sie es lebhaft vor sich sah. Leise ließ sie ihre Tränen laufen, wischte sie mit ihrem schmutzigen Ärmel ab und weinte nur noch mehr. Das Bild wurde immer deutlicher. Sie spürte wieder die kühle Nachtluft, roch den Gestank der Revolution, der sich im ganzen Schloss ausgebreitet hatte, fühlte Xaviers Hände, die ihr Gesicht schmerzhaft umschlossen. Aber trotz des Grauens war da etwas, woran ihre Gedanken haften blieben. Etwas stimmte nicht an diesem Bild. Sie wusste nicht, was es war und kam nicht darauf, so sehr sie auch grübelte.

      Während sie mit Postkutschen ihrem Ziel entgegenrumpelten, färbte der Oktober die Blätter bunt. Sie fuhren wie durch goldene Kathedralen; die Herbstsonne ließ die gelben Blätter aufflammen und der Wind flüsterte in ihnen ein Versprechen von einer üppigen Ernte.

      Madeleine war schon froh, dass Xavier sie im Inneren der Kutsche mitfahren ließ. Die Nächte verbrachten sie ähnlich wie die erste: Xavier in einem Bett, Madeleine davor auf dem Boden. Seit sie in England unterwegs waren, wurde Xavier mit jedem Tag ruppiger. Je sicherer er sich in diesem Land bewegte, je mehr er offenbar zu erkennen glaubte, dass er ihrer Hilfe nicht bedürfe, desto herrischer benahm er sich gegen sie. Ihrem Onkel würde sie haarklein alles erzählen. Xavier sollte sich nicht einbilden, bei ihrem Onkel auch nur die Ställe ausmisten zu dürfen. Wenn er glaubte, sie würde sich dafür einsetzen, dass er als Verwalter arbeiten durfte, hatte er sich getäuscht. Xavier konnte von Glück sagen, wenn ihr Onkel ihn nicht bei Wasser und Brot einsperrte.

      Und immer wieder drängte sich das Bild ihrer Familie in ihre Gedanken. Es wurde zu einem ständigen Begleiter, machte ihren Atem schwer, doch sie durfte nicht weinen. Nicht in der Kutsche mit lauter fremden Menschen; nicht vor Xavier, der sie dafür nur angeherrscht hätte.

      Xavier musste gespürt haben, dass Madeleine sich immer mehr von ihm zurückzog, und offensichtlich bekam er Angst, sie könne ihn verlassen und ihren Weg alleine fortsetzen. Also zeigte er sich besonders gnädig und buchte in einem schönen Gasthaus ein Zimmer mit nur zwei Betten. Madeleine freute sich auf eine weiche Nachtruhe und dachte sich nichts dabei, als Xavier noch einmal ausgehen wollte. Er schloss sie ein, aber sie war so wohl versorgt mit allem, dass sie sich dadurch einfach nur sicher fühlte.

      Es war schon dunkel, als Madeleine aus dem Schlaf aufschreckte. Xavier war zurück - und hatte jemanden mitgebracht. Flüsternd befahl Xavier, eine Lampe anzuzünden. Die Person gehorchte, und gleich darauf sah Madeleine die nächtliche Besucherin. Madeleine hätte nicht gedacht, dass Xavier ein so weiches Herz hatte: Der Schlafgast war ein junges Mädchen, nicht viel älter als Madeleine selbst. Sie war schmutzig und abgemagert, ihr Kleid war kaum noch als solches zu erkennen, so zerrissen und besudelt war es. Noch vor wenigen Wochen hätte Madeleine ein solches Mädchen allenfalls aus der sicheren Kutsche heraus gesehen und sich schnell abgewandt. Elend war immer unästhetisch und gehörte nicht in ihre Welt. Doch nun? Nach den Wochen auf der Flucht hatte sich ihr Blick auf die Welt sehr verändert. Ihr Herz wurde schwer beim Anblick dieses Mädchens.Was war ihr geschehen, wo war ihre Familie? Wieso half ihr niemand? Und mit einem Schlag wurde Madeleine klar, dass es Mädchen wie dieses auch in Frankreich gab; hunderttausende Mädchen, Männer und Frauen, die weniger als das Nötigste zum Leben hatten. Es war kein Wunder, dass sie sich erhoben hatten.Wäre es nicht an den Adligen gewesen, die schlimmsten Missstände zu beseitigen? Konnte man wirklich jahrhundertelang Steuern kassieren und erhöhen, ohne zu beachten, dass die Menschen auch ein Recht auf Leben hatten? Man konnte - aber nun trug der französische Adel die Konsequenzen.

      Wie gut, dass Xavier für das arme Mädchen sorgen wollte. Ganz sicher würde sie bei ihrem Onkel eine Anstellung finden. Schon wollte Madeleine