Wie in allen Vorkriegszeiten häuften sich Ereignisse wie Anschläge auf Schiffe im Persischen Golf und deren Beschlagnahme oder Raketeneinschläge auf Ölanlagen in Saudi-Arabien. Dadurch erhöht sich das Kriegsrisiko dramatisch. Solche Zwischenfälle können real sein, hoch- oder heruntergespielt werden oder gar konstruiert sein.
Ein Beispiel für einen konstruierten Zwischenfall war der angebliche Beschuss eines amerikanischen Schlachtschiffes durch ein nordvietnamesisches Schnellboot im Golf von Tonkin im Jahre 1964. Nachdem es eine unbedeutende Auseinandersetzung einige Tage zuvor gegeben hatte, fand dieser nicht statt. Er war aber die Basis für eine Resolution des US-Kongresses, die den zehnjährigen Vietnamkrieg auslöste. Ein anderes Beispiel ereignete sich 1988 nach dem Eintritt der USA im Verlauf des Irak-Iran-Krieges 1980–1988, in dem die USA den Irak unterstützten. Ein US-Kriegsschiff wurde von irakischen (nicht iranischen!) Torpedos getroffen. Die USA vernichteten daraufhin die iranische Tankerflotte und das US-Kriegsschiff »Vincennes«, das sich in iranischen Gewässern befand, schoss ein iranisches Zivilflugzeug ab. Der Airbus 300 wurde laut Angaben der US-Navy mit einer F-14 verwechselt. Von den 290 Insassen überlebte keiner.
Zwischenfälle wie der Abschuss eines ukrainischen Zivilflugzeuges nahe Teheran im Januar 2020 durch iranische Luftabwehrraketen mit 176 Opfern entstehen in derart angespannten Situationen. Dieser war die Folge der völkerrechtswidrigen Ermordung des Kommandanten der Quds-Elitebrigade General Qasem Soleimani im Irak durch US-Drohnen. Damit wurde das Kriegsrisiko dramatisch erhöht. Der Iran reagierte mit einem Gegenschlag auf US-Anlagen, wobei es wegen Vorwarnungen, die wahrscheinlich teilweise vom Iran selbst kamen, keine Opfer gab. Der getötete iranische General Soleimani war ein offizieller Vertreter des Iran (gleichrangig mit dem US-Verteidigungsminister). Wenn die Raketen, die den General töteten, von diesen Anlagen aus gestartet wurden, dann war die iranische Reaktion ein Akt von Selbstverteidigung nach Artikel 51 UN-Charta.
Amerikanische Opfer wären für die USA ein triftiger Grund, militärisch auf iranisches Territorium loszuschlagen, was wieder für den Iran unannehmbar wäre. Wenn aus den Anschlägen kontinuierlich wachsende gewaltsame Akte entstehen, kann die Tötung von Soleimani als Beginn eines Krieges gesehen werden. Die beiden Staaten könnten in einen langen Aufstands- und Abnützungskrieg verwickelt werden. Präsident Trump hat mit der Ermordung von General Soleimani versucht, eine Neugestaltung der US-iranischen Beziehungen, wie das Präsident Obama mit seiner Engagementpolitik anstrebte, zu zerstören.
Europas Schwäche
Die europäischen Parteien des Abkommens (Frankreich, Großbritannien, Deutschland) schufen einen Mechanismus INSTEX (Instrument for Supporting Trade Exchanges) zur Aufrechterhaltung des Handels mit dem Iran trotz US-Sanktionen. Dennoch zogen sich die großen europäischen Unternehmen aus Angst vor den sogenannten Sekundärsanktionen der USA aus dem Iran zurück.42 Somit musste sich INSTEX auf humanitäre und medizinische Produkte beschränken. Die europäischen Staaten sind nicht in der Lage, den Verlust, den der Iran durch die US-Sanktionen erleidet, zu kompensieren, wie der Iran erwartet hatte.43
Als Reaktion darauf begann der Iran, die Begrenzungen im Abkommen langsam zu überschreiten. Derartige Maßnahmen eines Partners sind im Abkommen erlaubt, wenn sich andere Partner nicht daran halten (Artikel 26, 36). Es ist ein Paradoxon, dass US-Präsident Trump und Israels Premierminister Netanjahu dem Iran die Verletzung des Abkommens vorwarfen, nachdem sie es als das schlechteste aller Zeiten bezeichnet und die USA sich daraus zurückgezogen hatten. Allerdings kann der Iran nicht glaubhaft vermitteln, dass er keine Nuklearwaffen anstrebt und gleichzeitig mit dem schrittweisen Ausstieg aus dem Nuklearabkommen die Europäer unter Druck setzen. Der Iran kann aber mit dieser Taktik Präsident Trump in Verlegenheit bringen, wenn er knapp vor den US-Präsidentschaftswahlen im November 2020 die technischen Voraussetzungen erreicht, eine Nuklearbombe zu bauen. Knapp vor den Wahlen würde der Präsident sich entscheiden müssen, zu einer militärischen Aktion zu schreiten oder diesen Zustand zu akzeptieren.
Der Iran kündigte nach der Ermordung von General Qasem Soleimani an, dass er sich nicht mehr an die Vorgaben des JCPOA halten würde. Die USA und Israel werden umgehend dem Iran vorwerfen, eine Nuklearwaffe bauen zu wollen. Das kann einen Vorwand für eine militärische Intervention bieten, wie dies schon vor der Irak-Intervention der USA von 2003 der Fall war.
Um den Iran wieder zur Einhaltung des Abkommens zu zwingen, riefen die EU-3 Mitte Januar 2020 den im Abkommen vorgesehenen Streitschlichtungsmechanismus der »Gemeinsamen Kommission« an. Wenn nach 30 Tagen unter Beteiligung der Außenminister keine Einigung gefunden werden kann, befasst sich der UN-Sicherheitsrat mit dem Vorwurf der Verletzung des Abkommens. Nach weiteren 35 Tagen ohne Einigung treten die UN-Sanktionen gegen den Iran automatisch wieder in Kraft (»snap back«), wenn keine Abstimmung dagegen stattfindet. Das würde das endgültige Aus des JCPOA bedeuten. Nicht nur Trump, sondern auch die Europäer haben damit zum Ende des Abkommens entscheidend beigetragen. Der Iran hat angekündigt, dass er auch den Atomwaffensperrvertrag (NPT) verlassen könnte, sollten die Europäer die Entscheidung an den UN-Sicherheitsrat verweisen. Es gibt die Vermutung, dass die iranische Administration den Europäern gedroht hat, auf Autoimporte 25 Prozent Strafzölle zu verhängen.44
Isolierung des Iran und der Palästinenser
Mit dem Aufbau des Iran als gemeinsames Feindbild Israels und Saudi-Arabiens sowie anderer arabischer Staaten versuchen Israels Premier Netanjahu und US-Präsident Trump auch, den Palästinensern die arabische Unterstützung zu entziehen. Das ist umso paradoxer, als es die arabischen Staaten und nicht der Iran waren, die Israel seit seiner Existenz drei Mal angriffen. Der Iran hat in den letzten 200 Jahren wegen der russischen und britischen Besetzungen selbst Territorium in Zentralasien im Kaukasus und der arabischen Welt eingebüßt, ohne dass er einen Angriffskrieg geführt hätte.
Politische Empfehlungen
Hegemonieverzicht
Um die Kriegsgefahr zwischen den USA und Iran vorerst zu mildern, könnten sich beide Seiten zu einer allgemeinen Erklärung durchringen, in der sie sich verpflichten, auf Hegemonieansprüche in der Region zu verzichten. Das wäre eine gesichtswahrende Maßnahme, die die Gesprächsdynamik ändern könnte. Dafür gibt es bereits ein historisches Vorbild. Als 1972 US-Präsident Richard Nixon den Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Chinas Mao Tse Tung traf, wurde ein derartiges Kommuniqué verabschiedet. Beide Seiten verzichteten darin auf hegemoniale Ansprüche in Ostasien. Mao wollte ohnehin die Unterstützung von kommunistischen Aufständischen reduzieren, und Nixon wollte den Rückzug der USA aus Vietnam vorbereiten. Das Nixon-Mao-Treffen wurde zu einem der erfolgreichsten Gipfel der Geschichte.
Nuklearwaffenfreie Zone und regionale Rüstungskontrolle
Trotz dieser Spannungen könnte der Iran selbst konstruktive Vorschläge machen. Um Befürchtungen der USA und Europas bezüglich des Nuklearprogrammes zu zerstreuen, könnte er anbieten, der nuklearwaffenfreien Zone in Zentralasien (Vertrag von Semipalatinsk45) beizutreten. Zentralasien steht dem Iran historisch und kulturell viel näher als seine arabischen Nachbarn. Im Gegenzug müssten die USA allerdings das Protokoll des Vertrages ratifizieren, in dem sich Nuklearwaffenmächte verpflichten, Mitgliedstaaten dieser Zone nicht mit Nuklearwaffen anzugreifen oder sie zu bedrohen. Der Iran käme damit in den Genuss dieser negativen Sicherheitsgarantien. Das wird umso dringlicher, als Trump dem Iran mehrmals mit der völligen Auslöschung gedroht hat. Das wäre wohl nur mit kleinen Nuklearwaffen möglich, wollen