»Vorur… Was ist das?« Peter verzog den Mund, als habe er in einen sauren Apfel gebissen.
»Man spricht von einem Vorurteil, wenn man urteilt, bevor man eine Sache oder einen Menschen kennt.«
Peter schaute den großen Bruder
mit blanken Augen an. »Versteh ich nicht.«
»Also, pass auf«, begann Chris noch einmal. Cindy verfolgte die Debatte schmunzelnd. Es gefiel ihr, wenn sich die Geschwister gegenseitig belehrten.
»Wenn Alice jetzt zum Beispiel behaupten würde, das Spielzeugauto, das du dir wünschst, ist nicht schön oder taugt nichts, obwohl sie es noch nicht gesehen hat, das wäre ein Vorurteil.«
»Aha!«, strahlte Peter. »Jetzt verstehe ich es.«
»Siehst du, und genauso ist es mit diesem Herrn Bromann. Wir kennen ihn doch noch gar nicht. Also wäre es falsch, jetzt schon zu urteilen. Das können wir höchstens, wenn wir ihn kennengelernt haben.«
Die Geschwister schauten Chris sprachlos an. »Wenn du das so treffend erklärst, Chris, dann muss sogar ich kapitulieren«, gab Cindy zu. »Was meint ihr, Alice und Peter, wollen wir uns diesen Herrn Bromann einmal anschauen?«
»Okay«, gestattete Peter großzügig.
»Und du, Alice, bist du noch immer dagegen?«
»Nein, eigentlich nicht mehr. Ich habe nur Angst, dass er dich dann öfter einladen wird und dass du uns oft allein lässt.«
»Und wenn ich verspreche, dass ich das bestimmt nicht tun werde?«
»Dann bin ich auch einverstanden, dass er kommt«, strahlte Alice.
Peter hatte sich bei Cindy erkundigt, wann der Besucher kommen wolle, und hielt sich schon eine Stunde vorher im Garten auf, um die Ankunft des Besuchers ja nicht zu verpassen. Neugier war nun mal seine schwächste Seite.
Pünktlich um vier Uhr sah Peter einen sehr großen und sehr eleganten Wagen vorfahren. Wie er mit Alice vereinbart hatte, stieß er einen hohen Pfiff aus und raste zur Gartentür. Als er genug gesehen hatte, flitzte er zurück und kam atemlos ins Wohnzimmer gestürzt. »Er kommt, er hat einen riesengroßen Wagen und einen Mann in Uniform am Steuer!«
»Also einen Chauffeur«, stellte Chris fest.
»Außerdem ist er uralt und ganz klein und dünn«, sprudelte Peter weiter hervor.
»Aber Peter!«, tadelte Cindy.
Doch sie konnte sich das Lachen nicht verbeißen. Peters naive Schilderung hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.
Einen Moment später läutete es. Chris sprang auf. »Ich gehe öffnen.«
Langsam schritt Chris zur Gartentür. Noch bevor er Walter Bromann sah, entdeckte er den Straßenkreuzer. Es war ein funkelnagelneuer Wagen, der glänzte, als sei er soeben aus dem Schaufenster gefahren worden. Erst mit dem zweiten Blick erfasste Chris den unscheinbaren Mann am Gartentor. Er öffnete und sagte höflich: »Guten Tag!« Dabei konnte er die Abwehr nicht ganz aus seiner Stimme verbannen.
»Guten Tag. Mein Name ist Walter Bromann …« Der Besucher sagte noch mehr, doch das nahm Chris schon nicht mehr wahr. Denn Walter Bromann begann zu lächeln, und dieses Lächeln war so herzlich und entgegenkommend, dass Chris augenblicklich alle Voreingenommenheit, die doch ganz tief in seinem Innern geschlummert hatte, vergaß und zurücklächelte. Er stellte sich als Chris Haller vor und streckte dem Besucher kameradschaftlich die Hand entgegen. Dann führte er ihn ins Haus und erklärte Walter Bromann unterwegs, warum nur noch die eine Hälfte davon existierte.
Als Chris mit dem Besucher das Wohnzimmer betrat, machte er Walter Bromann zuerst mit Cindy bekannt. Die Vorstellung der kleineren Geschwister übernahm Cindy dann selbst.
Dabei erging es Peter und Alice genauso wie vorher Chris. Walter Bromanns entwaffnendes Lächeln ließ die Kleinen sofort mit fliegenden Fahnen zu ihm überwechseln. Als er dann gar noch Süßigkeiten verteilte, war die Freundschaft besiegelt.
»Ich weiß, dass es nicht ganz korrekt war, hier einfach so bei Ihnen einzudringen«, entschuldigte sich Walter Bromann, sobald er saß. »Aber Sie waren gestern Abend eine so fröhliche Runde, dass mich der Gedanke, Sie kennenzulernen, einfach nicht mehr losließ,«
Cindy lächelte entgegenkommend. Auch ihr war der freundliche, unaufdringliche kleine Mann sympathisch. »Jetzt kann ich Ihnen ja verraten, dass wir heute beim Mittagessen einen Kriegsrat einberufen und darüber abgestimmt haben, ob ich mich von Ihnen zu einer Tasse Kaffee einladen lassen soll oder nicht«, verriet sie.
Diese Idee schien ihm zu gefallen. »Das finde ich großartig. Und was hat der Familienrat beschlossen?«
»Er hat beschlossen, dass Cindy mitgehen darf«, antwortete Peter spontan.
»Das halte ich für sehr großzügig«, bedankte sich Walter Bromann. »Ich verspreche euch, eure Schwester in spätestens einer Stunde wieder zu Hause abzuliefern.«
»Ach«, machte Peter mit einer großzügigen Handbewegung. »Wir sind da nicht so kleinlich.« Worauf ein allgemeines Gelächter entstand.
»Wenn du mir schon so großzügig entgegenkommst, dann will ich auch gleich noch einen Vorschlag anbringen«, wandte sich Walter Bromann völlig ernst an Peter, als sei dieser der Familienvorstand.
Er weiß genau, wie man mit Kindern umgehen muss, dachte Cindy.
»Was denn für einen?«, wollte Peter natürlich sofort wissen.
»Ich möchte euch alle heute zum Abendessen zu mir einladen«, sagte Walter Bromann. Es klang fast ein wenig schüchtern, besonders, als er Cindy dabei anschaute.
»Och, das finde ich aber toll von Ihnen«, rief Peter überwältigt aus. »Chris, was sagst du jetzt?«
»Dass ich für meinen Teil die Einladung gern annehme.«
»Und unsere kleine Dame?«, wandte sich Walter Bromann liebevoll an Alice.
Sie hatte von ihm einen Papierblumenstrauß bekommen, dessen Blüten aus Pralinen bestanden. Dieses hübsche Geschenk und Walter Bromanns rücksichtsvolle Art machten ihn ihr sympathisch. Mit einer Praline im Mund bestätigte sie nickend, dass auch sie sich über die Einladung freue.
Cindy hatte die Unterhaltung aufmerksam verfolgt. »Da bleibt mir ja nichts anderes übrig, als ebenfalls zuzustimmen«, sagte sie nun. »Ich bin überstimmt.« Aber das Lächeln, das ihre Worte begleitete, zeigte, dass sie genauso dachte wie ihre Geschwister.
Nach einer Viertelstunde holte Cindy ihre Handtasche und ein leichtes Jäckchen und verließ mit Walter Bromann das Haus. Er erkundigte sich höflich, ob sie einen besonderen Wunsch habe. Da sie verneinte und ihm die Führung überließ, führte er sie in ein Café, das in der ganzen Stadt für seine exquisiten Torten und Backwaren bekannt war.
Fast hatte Cindy ein schlechtes Gewissen, als die Bedienung ihr auf Walter Bromanns Anordnung hin einen Teller mit drei verschiedenen, lecker anzusehenden Obsttörtchen hinstellte. Sie dachte sofort an die Geschwister. Nur der Gedanke, dass sie ja am Abend dabei sein würden, tröstete sie und ließ sie die Süßigkeiten mit Genuss verzehren.
»Gefällt es Ihnen hier«, erkundigte sich Walter Bromann.
»Es ist sehr hübsch. Ich selbst könnte es mir nicht leisten, hierherzukommen.«
»Dann lassen Sie sich doch einfach öfter von mir einladen«, schlug er vor.
Cindy lächelte zwar, aber sehr reserviert. Das erkannte er sofort.
»Sie brauchen sich deswegen zu nichts verpflichtet zu fühlen«, versicherte er sofort. »Sehen Sie, Frau Haller, ich bin sehr kinderlieb. Leider habe ich jedoch keine eigene Familie und auch keine Kinder. Deswegen hat mich Ihre fröhliche Runde gestern Abend sofort angezogen. Lassen Sie mich Ihnen und Ihren Geschwistern ein väterlicher Freund sein. Das ist alles, worum ich bitte.«
Dagegen war an und für