Bezaubernde Cindy
Das Haus, in dem die Geschwister Haller wohnten, war von außen eigenartig anzusehen. Die linke Hälfte, die in den Garten hineinragte, war zerstört. Trotzdem sah man auch jetzt noch, dass es einmal ein sehr schönes Haus gewesen sein musste. Der große, nun etwas ungepflegte Garten, bestätigte diesen Eindruck.
An diesem Freitagnachmittag drang aus den bewohnten Räumen plötzlich das Klirren von Porzellan und gleich darauf der erschrockene Schrei eines kleinen Jungen.
Alice Haller, selbst erst neun Jahre alt, tadelte ihren siebenjährigen Bruder mit strafenden Blicken. »Kannst du nicht aufpassen, Peter! Jetzt hast du unsere schönste Suppenschüssel zerschlagen!«
Der kleine Junge mit den lebhaften schwarzen Augen und den schwarzen Locken stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf. »Was nützt uns schon eine Suppenschüssel, wenn überhaupt keine Suppe drin ist!«
»Wie soll denn jetzt, mitten am Nachmittag, Suppe in die Schüssel kommen?« Alice schüttelte den Kopf, dass ihr das hellblonde Haar in die Stirn fiel. »Und überhaupt, was hast du hier in der Küche zu suchen?«
»Ich habe Hunger«, beklagte sich Peter. Er schaute dabei recht unglücklich drein. »Deswegen bin auch so nervös und habe die Schüssel fallen gelassen.«
Nun glomm in Alices verträumten blassen Augen doch ein Lächeln auf. »Lange dauert es ja nicht mehr, bis du etwas zu essen bekommst.«
»Kannst du nicht schon mit dem Kochen anfangen?«, drängte Peter, denn Alice hatte bereits gelernt, einfache Speisen zuzubereiten.
»Wir haben überhaupt nichts mehr da«, entgegnete Alice. »Wenn ich kochen soll, muss Chris erst einkaufen gehen. Das ist seine Aufgabe.«
Also streckte Peter seinen Kopf durch die Wohnzimmertür, wo der zwölfjährige Bruder über seinen Schulaufgaben saß. »Chris, hast du gehört?«
»Ich höre schon die ganze Zeit«, knurrte Chris gereizt. »Bei dem Spektakel kann sich ja kein Mensch konzentrieren.«
»Es ist deine Aufgabe, einkaufen zu gehen, hat Alice gesagt«, wiederholte Peter fordernd. »Wir haben nichts mehr im Haus.«
Chris schaute zum zweiten Mal auf. Er hatte die gleichen Augen wie Alice, die jetzt zornig unter seinem wirren blonden Haarschopf hervorblitzten. »Wir haben auch kein Geld mehr, um einzukaufen«, erklärte er laut und deutlich. Doch als sich Peters Gesicht daraufhin kläglich verzog, fühlte er sofort Mitleid mit dem kleinen Bruder. »Nun wein doch nicht gleich los«, versuchte er zu beschwichtigen. »Ein bisschen Hunger ist doch noch lange kein Grund zum Heulen.«
»Doch«, jammerte Peter. »Wenn wir kein Geld haben und nichts einkaufen können, dann bekomme ich heute überhaupt nichts mehr zu essen.«
»Wie kann man bloß so verfressen sein«, stöhnte Alice, die nun auch ins Wohnzimmer trat.
»Ach du«, begehrte Peter unter Tränen auf.
»Du hast ja nie Hunger! Du kannst gar nicht verstehen, wie das ist, wenn der Magen knurrt.«
»Und du denkst die ganze Zeit nur ans Essen und sonst an gar nichts«, rief Alice aufgebracht.
»Nun hört doch auf, euch zu streiten«, versuchte Chris zu schlichten. »Was soll denn Cindy von uns denken, wenn sie nach Hause kommt und so etwas hört!«
Alice nickte sofort zustimmend mit dem Kopf. Dann fiel ihr etwas ein. »Bekommt Cindy nicht heute Geld?«
»Ja«, seufzte Chris. »Sie kriegt heute Gehalt und muss alles, was sie verdient, hergeben, um ihre Geschwister zu ernähren. Und was machen wir? Wir streiten hier herum, weil wir nicht schnell genug etwas zu essen bekommen.«
Beschämt senkte Peter den Kopf. »Aber Cindy hat doch gesagt, sie tut es gern für uns.«
»Noch lieber würde sie weiter zur Schule gehen und das Abitur machen«, belehrte Chris seine Geschwister. »Schließlich ist sie schon siebzehn und hätte nur noch ein Jahr gebraucht. Sie war eine der besten Schülerinnen in ihrer Klasse. Aber jetzt muss sie als Hilfskraft in einem Büro den Lebensunterhalt für uns verdienen.«
Chris’ Worten folgte minutenlanges Schweigen. Alle drei Kinder empfanden deutlich, wie viel sie der älteren Schwester verdankten.
»Was sollen wir denn tun?«, fragte Alice leise in das Schweigen hinein. »Du hast doch selbst oft genug gesagt, dass es keinen anderen Ausweg gibt, Chris.«
»Das ist es ja«, seufzte Chris. »Das wenige Geld, das uns die Eltern hinterlassen haben, ist längst aufgebraucht.«
Fast gleichzeitig wanderten die Gedanken der drei Kinder zurück zu jenem Unglückstag vor einem Dreivierteljahr. In der Nacht war der Gasofen explodiert und hatte den Teil des Hauses, in dem sich die Arbeitsräume des Vaters und das Schlafzimmer der Eltern befunden hatten, völlig zerstört. Wie durch ein Wunder war die eine Hälfte des Hauses mit den Kinderzimmern unversehrt geblieben.
Um zu verhindern, dass die Geschwister auseinandergerissen und in ein Waisenhaus gebracht wurden, hatte Cindy sich spontan entschlossen, die Schule zu verlassen und für ihre Geschwister zu arbeiten. Seither schlugen sich die Geschwister, die mit zärtlicher Liebe aneinander hingen, recht und schlecht durchs Leben.
Am härtesten hatte der Verlust der Eltern den knapp siebenjährigen Peter getroffen. Deshalb fanden die Geschwister auch immer wieder Verständnis für seine kleinen und größeren Streiche und Missgeschicke. Er war so lebhaft und ungeduldig, dass ihm aber auch dauernd etwas passierte.
»Ich gehe in den Garten und warte auf Cindy«, erklärte er jetzt, um der drückenden Atmosphäre im Wohnzimmer zu entfliehen.
Kurz nach fünf Uhr kam ein großes, sehr schlankes Mädchen die ruhige Straße heruntergeradelt und hielt vor dem halb zerstörten Haus
»Cindy! Cindy!«, rief Peter und rannte der Schwester entgegen.
Cindy lehnte das Fahrrad an den Gartenzaun und fing den kleinen Bruder in den ausgebreiteten Armen auf. Es war erstaunlich, wie sehr die Geschwister einander ähnelten. Sie hatten die gleichen schwarzen Augen und das gleiche dunkle Haar.
»Na, mein kleines Schachtelteufelchen«, lachte Cindy und schwenkte den Bruder durch die Luft.
Peter schrie vor Vergnügen auf und bestätigte sich selbst wieder einmal, dass ihn niemand so gut verstand wie Cindy. »Musstest du viel arbeiten?«, fragte er.
»Heute war es nicht so schlimm«, lachte Cindy. Dann nahm sie ihren Bruder bei der Hand und ging mit ihm ins Haus. »Hallo, ihr beiden«, begrüßte Cindy Alice und Chris beim Betreten des Wohnzimmers. Ihre Fröhlichkeit wirkte so ansteckend, dass Alice und Chris augenblicklich ihre trüben Gedanken vergaßen.
»Ich habe die Küche in Ordnung gebracht und auch das Wohnzimmer aufgeräumt«, sagte Alice und strahlte, als Cindy ihr dankbar übers Haar strich.
Chris räumte seine Schulbücher beiseite und erbot sich, einkaufen zu gehen. »Wenn es notwendig ist«, fügte er hinzu, um Cindy nicht so deutlich spüren zu lassen, wie sehr sie auf das Geld warteten, das sie nach Hause brachte.
»Es ist ganz bestimmt notwendig«, meinte Cindy. »So weit ich mich erinnere, haben wir absolut nichts mehr im Haus.«
»Das stimmt allerdings«, bestätigte Chris lakonisch.
»Macht ja nichts«, sagte Cindy tröstend. »Wir teilen jetzt das Geld für den kommenden Monat ein, und heute Abend lade ich euch zur Feier des Tages in die Pizzeria zum Essen ein.«
Cindys Worten folgte ein allgemeiner Tumult, der damit endete, dass alle gleichzeitig der großen Schwester um den Hals flelen. Besonders Peter konnte seine Freude kaum zügeln. »In die schöne, große Pizzeria an der Ecke vorn? Gehen wir in die?«, erkundigte er sich immer wieder.
Cindy bestätigte es ihm.
»Ist das auch nicht zu teuer?«, wandte Chris nun doch ein.
»Eine Pizza und eine Coca-Cola für jeden werden wir uns wohl leisten können«, beruhigte Cindy ihn. Dann holte sie ihre Gehaltstüte hervor und eine Liste mit verschiedenen Posten. »So,