Sie fahren im Fahrstuhl bis in den achten Stock des Hauses. Im Flur sieht Ian sich um. Es gibt fünf Wohnungstüren. Annabell öffnet eine und deutet hinein. „Bitte.“
Ian schlendert an ihr vorbei und steht in einem schmalen Wohnraum mit integrierter Küche und einem Tresen. Wüsste er nicht, dass es eine Wohnung ist, würde er schwören, in der Ausstellung eines Möbelkaufhauses zu stehen. Die Wände sind weiß, die Couch und der Sessel schwarz, ein Esstisch, ein hoher Schrank mit Glastüren und vier Stühle ebenfalls schwarz. Der Küchentresen ist so grau wie der Fußboden, und die Küchenmöbel glänzen in Weiß.
Nicht ein Tupfer einer anderen Farbe. Nur Grau, Schwarz und Weiß. Zwei Türen führen in weitere Räume, vermutlich eine ins Bad und eine ins Schlafzimmer. Gegenüber der Wohnungstür befindet sich eine Fensterfront, durch die man einen herrlichen Blick auf L.A. und das Meer hat und durch deren Glastür man auf einen schmalen Balkon gelangt. Die Sonne ist inzwischen längst untergegangen und überall schimmern die Lichter der Stadt.
Er sieht sich um. Das winzige Apartment ist nicht nur aufgeräumt, es wirkt geradezu steril. Nicht mal die Fernbedienung eines Fernsehers liegt irgendwo herum.
Er hört, wie die Wohnungstür zuklappt, und wendet sich seiner Gastgeberin zu. Annabell steckt den Schlüssel ins Schloss, dreht ihn um, zieht ihn wieder ab und hängt den Schlüsselbund neben der Tür an einen Haken.
Sie kommt auf ihn zu. Ihre Hände halten sich verkrampft an ihrer Handtasche fest.
„Äh …“ Sie zeigt auf die linke Tür. „Da ist das Bad.“
Ian stellt seine Taschen ab und nickt. „Eine Dusche wäre toll.“
„Natürlich … äh … fühl dich wie zu Hause, ich hole dir Handtücher. Ich muss bloß erst …“
Sie geht in den Küchenbereich und wäscht sich hektisch die Hände. Anschließend marschiert sie zur zweiten Tür des Wohnbereiches und öffnet sie. Ian ist zu neugierig, um ihr nicht unauffällig drei Schritte hinterherzuschlendern und einen Blick hineinzuwerfen. Auch dieser Raum ist extrem aufgeräumt und die rosa Bettwäsche auf dem breiten Bett so penibel glatt gestrichen, dass keine einzige Falte zu finden ist. Immerhin ist sie weder schwarz noch grau noch weiß, sondern rosa. Wenigstens hängen über einem Kleiderständer ein paar Klamotten, und an der Wand stehen, wie mit einem Lineal abgemessen, sauber aufgereiht ein Paar schwarze Pumps, ein Paar Sandalen mit dünnen Riemen und ein Paar flache Stiefeletten. Sie scheint also tatsächlich in diesem Apartment zu leben.
Sie öffnet die Tür eines verspiegelten Kleiderschranks und holt zwei Handtücher heraus, weiße Handtücher, die sie ihm entgegenhält. „Brauchst du sonst noch was?“
„Nein. Vielen Dank.“
Er schlendert zurück in den Wohnraum, hockt sich vor seine Reisetasche und öffnet den Reißverschluss. Annabell geht an ihm vorbei zur Wohnungstür und greift nach dem Schlüsselbund. Ups, will sie ihn allein lassen? Nein, sie steckt den Schlüssel ins Türschloss, schließt auf und zu, rüttelt ein Mal an der Klinke, zieht den Schlüssel wieder ab und hängt den Bund zurück an die Wand.
Sie dreht sich um und begegnet seinem Blick. Augenblicklich nehmen ihre Wangen eine rötliche Tönung an. „Ich … ähm … hier muss man sorgfältig abschließen, die Gegend ist nicht die beste.“
Ian nickt nur und beginnt, in seiner Tasche nach einem frischen Slip und einem T-Shirt zu wühlen.
Annabell tritt hinter den Küchentresen und ihr Blick zuckt nervös hin und her. „Möchtest du etwas trinken?“
„Im Moment nicht, danke.“
Sie wäscht sich mit hektischen Bewegungen schon wieder die Hände, und Ian muss sich zusammenreißen, um nicht genervt zu stöhnen.
„Hör mal, du musst dir wegen mir keine Umstände machen. Es ist wirklich sehr nett, dass du mich bei dir übernachten lässt, aber ich möchte dir nicht den Feierabend vermiesen und du musst mich nicht bedienen.“
„Das macht keine Umstände.“ Sie runzelt die Stirn. „Ich beziehe dir eine Bettdecke.“ Bevor er antworten kann, ist sie in ihrem Schlafzimmer verschwunden. Ian seufzt. Das wird wohl kein angenehmer Abend mit nettem Small Talk werden.
Nachdem er das Bad betreten hat, hört er wieder das Klirren des Schlüsselbundes. Die Gute scheint zum dritten Mal ihre Wohnung abzuschließen. So was nennt man Zwangshandlung. Geier-Belli hat scheinbar ein paar Probleme. Schritte zählen, Handlungen wiederholen, Hände waschen, das sterile Zuhause … vielleicht ist sie eine Autistin. Dann muss sie ihn in ihrer Privatsphäre als massiven Störfaktor empfinden.
Das Badezimmer ist genauso aufgeräumt wie der Rest des Apartments. Hier sind die Wandfliesen schwarz und der Boden glänzt grau. Was für ein Gegensatz zum Wohnbereich, denkt Ian ironisch und seufzt. Zum Glück ist es nur für eine Nacht.
Er stellt sich unter die Dusche und genießt es, die nach dem langen Flug klebrige Haut einzuseifen. Als er das Wasser abstellt, hört er, dass sie schon wieder ihre Wohnungstür abschließt, und kann sich ein genervtes Augenverdrehen nicht verkneifen, während er den Rasierapparat anschaltet.
Um ihr nicht noch mehr Unbehagen zu verursachen, zieht er sich vollständig an, bevor er das Bad verlässt.
Sie steht in der Küche und trocknet sich gerade die Hände ab. Meine Güte, die Frau muss ja aufpassen, dass ihr keine Schwimmhäute wachsen. Als sie ihn hört, dreht sie sich ruckartig kurz in seine Richtung. „Ich mache Sandwiches. Ich hoffe, das reicht dir. Was Besseres hat mein Kühlschrank gerade nicht zu bieten.“
Sie scheint sich etwas gefangen zu haben und wirkt ruhiger als vorhin. Ian schlendert zu ihr hinüber. „Natürlich reicht das. Du musst dir wirklich nicht so viel Arbeit machen, ich kann mir auch selbst eine Scheibe Brot belegen. Du hattest doch bestimmt einen anstrengenden Arbeitstag.“
„Das geht schon. Setz dich drüben auf die Couch.“
Er lehnt sich an den Küchentresen. „Trevor Quentin hat den Ruf, ein Choleriker zu sein. Er ist vermutlich nicht gerade ein pflegeleichter Regisseur.“
Sie lacht trocken auf. „Nein, das ist er nicht. Aber in seinem Job ist er ein Genie, und es ist interessant, ihn bei der Arbeit zu beobachten.“
Ian sieht sich um. „Kann ich irgendwas tun? Vielleicht schon Gläser mit rübernehmen?“
„Äh … da drüben im Schrank. Ich habe Weißwein, wenn du magst.“
Ian lächelt sie an. „Wein hört sich gut an.“
Sie nickt, öffnet den Kühlschrank und holt eine Flasche heraus.
„Wenn du mir einen Korkenzieher gibst, mache ich ihn schon auf.“
„Das ist ein Drehverschluss.“ Sie stöhnt leise. „Tut mir leid, es ist billiger Wein, du bist sicher besseren gewohnt.“
Ian lacht. „Nein, kein Problem.“
„In Deutschland bauen sie doch überall Wein an, oder nicht?“
„Es gibt Weinanbaugebiete in West- und Süddeutschland, aber ich wohne in Norddeutschland, da trinkt man Bier mit Schnaps, der wie Wasser aussieht, und isst sauren Hering.“
Sie gluckst. „Saurer Hering?“
Er nickt. „Deswegen sind die norddeutschen Leute so lustig, weil sie so viel sauren Fisch essen.“
Geier-Belli runzelt die Stirn. „Du veräppelst mich.“
Er zwinkert. „Stimmt. Die Norddeutschen haben den Ruf, eher humorlos zu sein. Allerdings gibt es in Hamburg wirklich an jeder Straßenecke sauren Fisch, der nicht mal schlecht schmeckt.“
Sie kichert. „Du hast Humor, du scheinst eine Menge sauren Fisch zu essen.“
Erleichtert