Adel verpflichtet. Anatol Preissler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anatol Preissler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783961194681
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Körper, wenn das Haupt ihm fehlt? (Pause) Kopflos.

      (Er beginnt, seine Utensilien auszupacken. Im Laufe des Stückes wird er das Fallbeil mit einem Schleifstein schleifen und die Klinge polieren.)

      Ich mag meinen Beruf. Morgens, auf dem Weg zur Arbeit, den Geruch des frisch gebackenen Brots einsaugen. Und um den Marktplatz herum den Geruch von Bratwürsten und Kuchen. Und in der Mitte des Platzes, wo die Zimmerleute meist noch nicht ganz fertig geworden sind, den harzigen Geruch der frisch geschnittenen Bretter. Diese Zeit, bevor das Getümmel losgeht und die Schaulustigen kommen, das ist mir die liebste Zeit. Da bin ich unter Leuten und trotzdem ganz für mich. Und für einen kurzen Moment respektieren sie mich. Denn ohne mich kein Spektakel. Ohne Henker keine Hinrichtung. (kurze Pause, lacht kurz in sich hinein) Bin ja gespannt, ob diese Adeligen wirklich blaues Blut in den Adern haben. Vielleicht hätte ich heute besser die blauen Schuhe anziehen sollen. Falls was daneben geht. Aber was: Auch nur so ne Redensart. Auch nur ein armer Sünder. Und trotzdem bin ich aufgeregter als sonst. Irgendwie –

      SIBELLA

      (auf einem Diwan – spricht das letzte Wort mit) Kopflos. Was bin ich heute wieder kopflos! In einer Stunde sollte ich bei Scotland Yard sein und weiß immer noch nicht, welchen Hut ich tatsächlich tragen soll. Oh! Was für ein strahlend schöner Tag! Tragen Engel Hüte? Denn als Engel werde ich ihm gleich erscheinen. Meinem süßen, kleinen Lord. – Ein Engel. Das gefällt mir. Victor Lopez, ich bin gekommen, um dir den Schlüssel zur Freiheit zu reichen. – Ich denke, ich verzichte auf den Hut. Jetzt muss ich mich aber beeilen, sonst ist mein kleiner Lord seinen –

      Szene 1: Die Zelle

      Spot auf Victor, der in seiner Zelle gerade seine Memoiren fertig geschrieben hat. Ein Lederbuch mit seinen Notizen, ein Füller. Eine Löschwippe, sowie ein Bild seiner Mutter auf dem kleinen Tischchen.

      VICTOR

      (spricht das letzte Wort mit) Kopf-los? Niemals. Man kann mir vieles vorwerfen, aber Kopflosigkeit mitnichten. Das wird sich bald ändern. (für sich) Wie betrüblich.

      (Licht. Die Kerkerzelle. Währenddessen hat er die letzten Worte seiner Memoiren niedergeschrieben, löscht etwas Tinte mit einer Wippe.)

      Verzeihen Sie bitte, Mr. Calcraft, aber meine Nerven liegen etwas blank.

      HENKER

      Kein Wunder. Mylord werden ja morgen gerichtet. Tja, vom Kesselflicker bis zum Grafen, vorm Beil sind alle Menschen gleich. Was machen Sie da, wenn ich fragen darf?

      VICTOR

      Ich habe meine Memoiren zu Papier gebracht. Akribisch lückenlos und fein leserlich.

      HENKER

      Oh, ich kann leider nicht lesen. Weder akribisch noch lückenlos.

      VICTOR

      Kennen Sie die Redensart: „Die Wahrheit kommt immer ans Licht“?

      HENKER

      So sagt man.

      VICTOR

      Ich glaubte noch nie, dass dem so sei. Die Aussage an sich ist ja auch gänzlich unbeweisbar. Nur weil der eine oder andere es geschafft hat, durch seine Ungeschicklichkeit den verschlafenen Blick des Gesetzes auf sich zu ziehen, heißt das noch lange nicht, dass alle Kriminellen so ungeschickt zu Werke gehen. Was mich betrifft, liegt eine gewisse Ironie darin, keinen Fehler gemacht zu haben und trotzdem zu scheitern. Denn ich schwöre Ihnen, Mr. Calcraft …

      HENKER

      William, Sir, nennen Sie mich William.

      VICTOR

      … diesen Mord, für den man mich morgen hinrichten will, habe ich nicht begangen.

      HENKER

      Natürlich nicht, Mylord. (lacht sympathisch) Aber wenn ich Ihnen bei Ihren Aufzeichnungen irgendwie behilflich sein kann, mit Mord und Totschlag kenne ich mich aus. Und nicht zuletzt habe ich natürlich ein berufliches Interesse.

      VICTOR

      Ich möchte, dass Sie wissen, wen sie da ins Jenseits befördern. Denn ein Unschuldsengel bin ich gewiss nicht.

      HENKER

      Das freut mich zu hören, Sir. Macht es einfacher für mich.

      VICTOR

      (schlägt seine Memoiren auf) Nun denn. Ich wuchs in Clapham auf, diesem so wenig ersprießlichen Teil Londons.

      Flashback-Sound.

      MUTTER GASCOYNE

      Victor?

      VICTOR

      Ja, Mama?

      MUTTER GASCOYNE

      Du bist schon wieder ohne Schal außer Haus gegangen.

      VICTOR

      Ja, Mama.

      MUTTER GASCOYNE

      Eines Tages wirst du noch deinen Kopf irgendwo liegen lassen.

      VICTOR

      Ja, Mama. Verzeih bitte.

      MUTTER GASCOYNE

      Du weißt, wie empfindlich deine Gesundheit ist.

      VICTOR

      Ja, Mama. Verzeih bitte. (will abgehen, zögert) Mama?

      MUTTER GASCOYNE

      Ja?

      VICTOR

      Benjamin hat gesagt, wir können nicht adelig sein, weil wir kein Schloss haben. Sind wir adelig?

      MUTTER GASCOYNE

      Aber ja, mein Junge.

      VICTOR

      Wo ist dann unser Schloss?

      MUTTER GASCOYNE

      Victor, ganz gleich, was die anderen sagen: Wir sind aus dem Hause Gascoyne, einer der ältesten englischen Adelsfamilien. Doch die Familie des Grafen Gascoyne hat es mir nie verziehen, dass ich mich in deinen Vater verliebte und ihn geheiratet habe. Und als er dann viel zu früh von uns ging, waren wir auf uns allein gestellt. So leben wir nun statt in einem Schloss in diesem Haus und haben statt eines Butlers einen Untermieter.

      VICTOR

      Was hatten sie gegen Papa?

      MUTTER GASCOYNE

      Nun ja … weißt du, er war ein einfacher Musiker.

      VICTOR

      Aber Papa war doch ein berühmter schottischer Dudelsackspieler im Londoner Symphonie-Orchester!

      MUTTER GASCOYNE

      Nicht ganz. Er war –

      Ein Mexikaner mit großem Mexikanerhut und Guitarrón wird sichtbar.

      MEXIKANER

      (spielt und singt mexikanisch) La cucaracha, la cucaracha, Ya no puede caminar; Porque no tiene, porque le faltala patita principal!

      VICTOR

      Papa war Straßenmusiker?

      MUTTER GASCOYNE

      Er war begnadet, mein Junge!

      MEXIKANER

      Olé!

      MUTTER GASCOYNE

      (aus dem Bauch) Begnadet.

      VICTOR

      Ein Mexikaner?

      MUTTER GASCOYNE

      Von ihm hast du deine schönen, schwarzen Locken. (seufzt) Doch seit seinem Tod ist ein Huhn an Feiertagen wie heute ein äußerst rarer Leckerbissen.

      VICTOR

      (zum Henker) Verstehen Sie mich nicht falsch: Unnötige Grausamkeit hat mich schon als Kind abgestoßen. Doch