Sturm auf Essen. Hans Marchwitza. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Marchwitza
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783880215405
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Gescheites zu tun. In Berlin werden die Genossen totgeschlagen, und die Gesellen lungern faul an den Ecken rum.“

      „Laß doch“, sagte ihm Kahlstein, „er ist ja erst gekommen.“ Und er drehte sich wieder zu Franz Kreusat um. „Wir sind älter geworden, Fränzchen“, sagte er, nachdem er ihn länger angeschaut hatte. „An unserer Ecke hier siehst du niemanden mehr von den alten Jungen.“

      „Keinen mehr“, sagte Franz Kreusat und sah sich um.

      „Die Zeit hat sich geändert“, sagte Kahlstein. „Ich denke“, forschte er, „du bist nicht ganz blind durch die letzten Wochen gerannt und weißt, was sich abspielt. Wir haben heut anderes zu tun, als hier an der Ecke zu stehen und zu träumen ...“

      „Ach, was hat das für einen Zweck, dieser teilnahmslosen Gesellschaft von unserer Mühe zu erzählen“, meldete sich der Raup wieder. „Sie duseln alle ... derweilen verbluten unsere Menschen. Hier ist jedes Wort in den Wind geredet ...“

      Der Kuli sagte ärgerlich: „Poltre doch nicht immerfort, er wird sich auch noch besinnen.“ Er sagte zu dem grübelnden Franz Kreusat: „Er hat schon recht. Die alten Leute müssen sich mit den Gewehren rumschleppen, weil die Wehr auseinanderrennt. Und in Berlin würgen sie unseren Kampf ab ... Natürlich wirst du nicht wie ein verlorenes Schaf hier an der Ecke herumstehen“, sagte er, während der Altere empört schwieg. „Mit dem Spinnen ist es doch ein für allemal aus ...“

      Franz Kreusat durchlebte in diesen Minuten alle schönen und verfluchten bitteren Erinnerungen. Rasend stürmten sie über ihn her. Ihre Jugend war draußen geblieben. Die Phantasterei, ihr Spiel, ihren Leichtsinn, ihre Träume hier an der Ecke wiederzufinden, erschien ihm jetzt kindisch. Da stand der Hermann vor ihm, einer der früheren Jungen, mit älter gewordenem, ausgeträumtem, strengem Gesicht. Und daß er selber nicht mehr der frühere Franz Kreusat war, das Fränzchen, das sagte ihm Kahlsteins noch immer peinigendes Suchen und Forschen in seinem Gesicht und Blick.

      „Du starrst darein, als interessiere dich gar nichts mehr“, hörte er den Kuli ungeduldig sagen. „Jeder, der heut noch ein Gewissen hat, der regt sich und hilft. Komm und hol dir ein Gewehr! Wir können die Geschichte doch nicht aufgeben. Die Banditen möchten uns gern wieder entwaffnet sehen; dann sind alle unsere Opfer umsonst gewesen ...“ Er sah den grübelnden Franz vorwurfsvoll an. „Überlege nicht zuviel. Man schlägt uns die Genossen tot, die ohne Hilfe dastehen. Kommst du, Franz ...?“

      Franz Kreusat starrte den Freund unentschlossen an.

      „Ich wollte keins dieser verfluchten Dinger mehr anfassen ...“ Er sah Raups kleine, blauen Augen, in denen nur Groll und Verachtung lebten.

      „Du kommst“, ermahnte Kahlstein. Er faßte seine Hand: „Komm!“

      „Ich weiß nicht“, sagte Franz.

      Kahlstein sagte noch einmal: „Du wirst kommen!“

      Franz sah der Gestalt des Freundes nach; er ging noch wie auf dem Schiff, den breiten, wiegenden Schritt der Matrosen. Kahlsteins harter Blick sagte, daß er sich nie ergeben werde. Wollte er sich ergeben? Da war einer, der ihn nicht mehr für ein Kind und nicht für einen Lump hielt. Komm ...! hatte er ihm gesagt, nimm ein Gewehr!

      Die Kumpels von der Morgenschicht kamen vorbei. Bleich, abgewrackt, streitend, zwiespältig. Er konnte ihre Auseinandersetzungen hören. Der Hunger schürte ihre Wut. „Man soll mit dem unseligen Streit aufhören und nicht noch mehr Zwietracht schüren. Hindenburg freut sich darüber, und Noske kann sagen: ,Mit dieser Masse wird man leicht fertig’.“

      „Noske!“ schrie ein anderer, „seid ihr nur wie Noske! Der weiß, was ihr mit eurem Radikalismus anzettelt. Die Schädel schlagen wir uns gegenseitig ein ...“

      „Krupp regiert wie vor dem Krieg, und Stinnes regiert wie vorher, es hat sich nichts geändert. Der ewige Hader muß beendet werden, der ist unser Unglück ...!“

      „Ja, Stinnes herrscht wie früher. Nichts haben wir mit dem neunten November gewonnen. Die Gören nagen die Tische an. Die erbosten Weiber treiben uns Kerle zur Schicht ..., schafft Kleidung, schafft Fressen. Woher nehmen und nicht stehlen? Der ewige Hader, der verdammte, muß unter uns aufhören ...“

      Der Hader stapfte mit fahlen Wutmienen und vor Erschöpfung einknickenden Knien vorbei ... „Die Revolution? Laßt mich nicht lachen ... Die Revolution ist tot! Es geht bergab, weiter bergab ...“

      Der Vater kam aus dem Haus, groß, ausgetrocknet wie ein kranker Baum. „Nun, Junge, was willst du tun? Hier an der Ecke stehenbleiben?“

      Sie sahen sich an.

      „Geh rauf, die Mutter wartet auf dich!“ sagte der alte Mann und ging seufzend weiter.

      Franz Kreusat hatte sich nach einem schweren Zwiespalt entschieden. Er hüllte sich fester in den Mantel und setzte sich grübelnd in Bewegung. Seine Gedanken eilen, sie wiederholen: In Berlin schlagen sie die Genossen tot.

      Kahlstein und Raup hatten ihn aus einem wirren Traumzustand geweckt. Vielleicht war der Kuli, der ihn damals umarmt hatte, auch schon erschlagen. Er wollte nach Berlin.

      Franz dachte an die Mutter. Die wird natürlich wieder entsetzt sein, wenn er mit einem Gewehr im Haus auftauchte. Sie möchte ihn lieber wie früher daheim hocken und friedlich die Romanhefte lesen sehen; sie möchte ihn noch einmal in die Windeln einpacken. Sie träumt von besseren Verhältnissen, wenn er wieder arbeiten wird.

      Da stampften die fluchenden Verhältnisse, krumm und lahm von der Grubenarbeit, die sich noch in nichts geändert hatte. Diese Verhältnisse änderten sich nie, ehe man nicht den Schindern an die Kehle ging.

      Da torkelte ihm der Labisch entgegen. „Kommst du mit?“ heulte er ihn an. „Beim Grenzschutz kannst du in einem Tag einen guten Ramsch machen, und du bist aus dem Dreck ... Komm ...!“

      Franz riß sich mit Mühe von dem schwatzenden, schwankenden. Mann los, der ihn wieder in eine Kneipe mitziehen wollte. „Ich will nichts trinken, es hat keinen Sinn. Gib der Frau die paar Mark, versauf sie nicht ...!“

      „Kommst du mit? Komm, ich weiß, wo der Laden zu finden ist, wo sie auf uns warten“, schrie der Betrunkene.

      Franz Kreusat drehte sich nicht um. Die Angst vor diesem Nichtsmehr jagte ihn schneller. Ja, er hatte einige Minuten erwogen, ob es nicht doch ein bequemerer Weg sei, bei dieser neuen Truppe mitzumachen. Man brauchte ja nicht mit den anderen zu räubern, vielleicht gab es anständige Jungen dabei. Man konnte unter Umständen die Dummheiten und Gemeinheiten der Irrsinnigen verhindern, wenn man dabei war. Jetzt aber, als er Labischs stumpfes Gesicht wiedergesehen, schauderte ihm vor dieser Gesellschaft. Er quälte sich, zu begreifen, wie ein Mensch, der früher zwar gegen seine Umwelt gleichgültig, aber nicht bösartig gewesen war, sich so verwandeln, so widerlich, häßlich werden konnte.

      Das waren Tiere, Aasgeier, die der Krieg wieder entließ, die sich jetzt, nach einer verfehlten Glückssuche – auch Labisch war freiwillig in die Uniform gestiegen in neue, ungewisse Abenteuer stürzten. Er war ihnen gleich nach dem Novembertag überall begegnet, diesen abgewetzten, verstumpften und entwurzelten Gestalten. Sie stanken nach den Kaschemmen der Etappe, die Leichenfledderer, der üble Troß des Krieges, graue und blutjunge Gesichter, mit Gefreitenknöpfen und Tressen, die Bordelle füllend, dreckige Zoten erzählend. Den Sumpf gewöhnt, nur noch im Sumpf lebend, waren sie die ersten, die wieder von Werbebüros, von Grenzschutz und Freiwilligentruppen redeten. Nein, mit diesem Gespinst war es für ihn aus.

      Aber war der Weg, den Kahlstein eingeschlagen hatte, der richtige? Ich hätte vielleicht lieber der Mutter nachgeben und nach der Zeche gehen sollen, dachte er. Man sollte sich einfach dem Gegebenen beugen, es ist vielleicht doch nichts daran zu ändern. Man sollte sich fügen, schuften und sparen und heiraten. Die Alten müßten dann etwas zusammenrücken, bis eine andere, erträgliche Zeit käme. An ein Mädel denkt man fast gar nicht mehr – man ist doch kein Mönch geworden. Wirklich, man müßte sich nach einem guten Mädel umsehn und heiraten. Das war’ ganz nach dem Sinn der Mutter, und vielleicht das einzig richtige, was ein Mensch tun kann, der drei Jahre draußen rumgehetzt wurde ...

      Franz