Sturm auf Essen. Hans Marchwitza. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Marchwitza
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783880215405
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ihn trotz des ausgehöhlten Gesichts. Es war der Karl Labisch, sein früherer Strebenkumpel.

      „Na, auch zurück?“ Auch Labisch schien nicht sehr glücklich zu sein mit seinem Nachhausekommen. „Komm“, sagte er, „laß uns in die Schenke reingehen, ich habe keine Lust, nach Haus zu gehn.“

      Franz Kreusat ließ sich mitziehen.

      Sie tranken das schale Bier.

      Labisch grübelte.

      „Weißt du, man hätte sich vorher eine Kugel durch den Schädel schießen sollen“, sagte er. „Man kommt aus einem Dreck heraus und in einen anderen hinein. Die Plagen abgerissen und barfuß, und das Weib schaut einen an, als brächte man die Rettung. Verflucht, man konnte gleich wieder fortrennen.“ Er verlangte von dem träge gähnenden Wirt ein paar Schnäpse.

      „Die mußt du dir selber brauen. Ich hab’ kein’ zu verkaufen! Es gibt nichts mehr, seit ihr den Rummel gemacht habt!“ brabbelte der dicke, fleischige Mann.

      „Du hast schon was!“ schrie Labisch zornig. „Gib’s her!“

      Der Wirt zögerte noch, sagte: „Die kosten aber etwas!“

      „Egal!“ schrie Labisch, „schenk ein!“

      Der Wirt brachte die Gläser mit dem Schnaps.

      Labisch zahlte die verlangten drei Mark, knarrte: „Alles Spitzbuben!“ und trank. Er begann wieder: „Ich habe tatsächlich keine Lust, unter diesen Verhältnissen wieder in der Grube herumzukriechen. Nicht mit zehn Pferden kriegen sie mich hinein. Ich komm’ doch nicht nach dem ganzen Mist nach Haus, um hier zu hungern und mich noch um nichts und wieder nichts im Pütt abzuschinden.“

      „Wo willst du denn sonst hin?“ warf Franz Kreusat mißmutig ein. „Es bleibt dir doch nichts anderes übrig.“

      Labisch hatte das Glas Schnaps ausgetrunken und forderte von dem Wirt noch eins. „Sauf!“ befahl er Franz.

      Franz Kreusat betrachtete nach dem Schluck das gehetzte Gesicht des Kumpels. „Was willst du denn sonst anfangen?“ wiederholte er seine Frage, und etwas wie Haß regte sich bei dem Anblick des verstörten Menschen.

      „Ich hab’ mir das überlegt“, bemerkte Labisch nach längerem, finsterem Grübeln. „Ich melde mich einfach zu dem neuen Grenzschutz. Man sucht Leute dafür und bezahlt nicht schlecht. Auch das Fressen ist bei der Truppe besser. Die Familie müssen sie ja unterstützen“, sagte er. „Ich hab’ von verschiedenen gehört, daß sie sich dort ganze Koppel Gäule requirieren und für sich verscheuern. Hier gehst du ja mit Glanz vor die Hunde ... Ich hab’ es mir überlegt, ich geh’ und melde mich. Machst du mit?“ fragte er mit dem Blick eines Wahnsinnigen. „Ich sag’ dir, nur der Spitzbube lebt heut gut. Man war einmal ein anständiger Mensch, aber man hat an diesem anständigen Menschen so lange herumgeschunden, bis er ein Lump wurde. Sind wir denn heut mehr als Lumpen? Heut anständige Arbeit? Ich will nicht lachen ...“, und er lachte, lachte, bis er sich verschluckte. Er fragte heiser: „Gehst du mit, oder willst du dich hier begraben?“

      Franz Kreusat schwieg.

      Labisch redete weiter auf ihn ein.

      „Überleg dir die Geschichte. Wenn wir so lange den Dreck ausgewetzt haben, dann können wir mit ruhigem Gewissen auch den guten Teil mitnehmen. Hier verkommt man doch vollends. Wenn man die Kinder ansieht, das fremd gewordene Weib, dann könnte man zur Axt greifen und alles totschlagen.“ – Ob er mitgehe?

      Diese wahnsinnigen Augen! Das haßvolle, höhlige Gesicht. –

      Franz Kreusat trank, um nicht in dieses Gesicht schauen zu müssen, seinen Schnaps aus; er trank, obwohl das Glas leer war. Nein, nicht diesen Irrsinn, nicht diesen Weg. „Ich werde es mir überlegen“, sagte er, als Labisch mit seinem Drängen nicht nachlassen wollte. Er zog den Betrunkenen hinaus. „Geh nach Haus, Mensch, schlaf erst mal aus ...“

      „Kommst du mit?“ drohte Labisch und preßte in Wut seinen Arm. „Hier krepierst du. Ich sag’ dir, komm mit mir!“

      Franz Kreusat ging wieder allein. Die Schachtsirene heulte wie ein Tiger ... Höööö ...!

      Er ging an einem Schacht vorbei. Es war sein Schacht. Er sah einige Scharen Kumpels aus der Grube kommen. Der eine und andere rief ihn an. „Franz ...! Fränzchen, bist auch schon da?“

      „Dann kannst du ja wieder in die Grubenplorren steigen“, riefen sie. „Mensch, immer noch: schipp-schipp hurra!“

      Er hörte die Hammersignale. Die Mittagsschicht kroch wieder nach unten in die Löcher. Soll ich wirklich hinunter? grübelte er. Soll ich mit Labisch losziehen? Er hat recht, hier wird man wieder hoffnungslos schleppen müssen.

      Er ging im freien Feld. Schnee flatterte. Es tat ihm wohl.

      Unterhalb des Salkenberges breitete sich die Stadt Essen aus: grau, flammend. Kamine und Kamine, Rauch und Rauch. Hämmerdröhnen und Pfiffe von Lokomotiven. Eintönige, von Narben und Rissen bedeckte Häuserzüge, Ruß, Schlackestaub und der Geruch von brennender Kohle und glühendem Eisen. Es war seine Ruhr, seine Erde, seine Heimat. „Ich bin zu Haus ...“, sagte er sich, „... zu Haus ...!“

      Er kehrte um. „Ich werde nicht davonrennen“, sagte er sich.

      Er blieb wieder an der alten Ecke stehen.

      Er hörte in einem der gegenüberliegenden Häuser ein Bandoneon. Das Lied kannte er, sie hatten es früher hundertmal gesungen. Der Bandoneonspieler konnte nur Bruno Freising sein.

      Franz steckte die Finger zwischen die Zähne und pfiff.

      Oben im Fenster erschien der bekannte schwarze Schopf, aber das Gesicht war älter und fast fremd.

      Bruno Freising kam nach ein paar Minuten herunter. Er reichte Franz die Hand. „Mensch, gut, daß du wieder da bist!“ sagte er.

      „Ja, ich bin wieder da“, sagte Franz.

      Sie wollten wie früher eine Unterhaltung anfangen, aber sie waren sich irgendwie fremd geworden, und es blieb nur bei einigen nüchternen Fragen.

      „Was macht der Edy?“ fragte Franz.

      „Ach, der, der zeigt sich fast gar nicht mehr unten“, lachte Bruno Freising, „er sitzt jetzt immer bei irgend einem Weib, oder er schläft. Und was soll man auch sonst mit sich anfangen?“

      Sie trennten sich, nachdem sie noch eine halbe Stunde so zusammen gestanden hatten.

      „Sie wissen mit sich nichts anzufangen“, sagte Franz, als er nach oben ging. „Die letzte Geschichte hat sie nicht aufgemuntert. Sie bleiben die gleichen.“

      Franz stand am anderen Nachmittag wieder an der alten Ecke. Er lehnte sich an die Mauer wie früher. Die Straßenbahn rappelte vorbei. Frauen mit mageren, mürrischen Gesichtern, ärmlich bekleidet, Männer mit blauen Narben stiegen aus, Kumpels von den entfernt liegenden Schächten. Dürr und krumm. Unten waren Bruchwüsten aufzuräumen. Der Krieg hatte Kohle gefressen, die Brüche fraßen die Menschen.

      Zwei Männer kamen in Soldatenuniformen; ein abgemagerter älterer, mit grauem, zernarbtem Gesicht, der andere in einer Kulibluse. Beide hatten Gewehre über der Schulter hängen. Sie gingen langsam auf ihn zu.

      Franz erkannte den Kuli. Erfreut rief er: „Hermann!“

      Der Matrose blieb stehen.

      „Bist du’a, Franz?“

      „Mensch, Hermann!“ rief Franz Kreusat erstickt. „So eine Freude. Wir beide sind da ...!“

      Auch der Altere war ihm noch bekannt. Das war doch der Fritz Raup, der ihnen früher, vor dem Krieg, in der Waschkaue lange Reden gegen den Kapitalismus gehalten hatte. An alles erinnerte sich Franz Kreusat in diesem Augenblick ...

      „Was treibst du?“ fragte der breitschultrige Kuli und rückte an dem Gewehr.

      „Was soll unsereiner treiben?“ antwortete Franz Kreusat. „Gar nichts!“

      „Du