Sturm auf Essen. Hans Marchwitza. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hans Marchwitza
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783880215405
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nicht voreilig gehandelt hat.“ Weil er aber befürchtete, daß die plötzlich wieder radikal gewordene Menge zu sehr sich selbst und neuen Feinden überlassen blieb, darum hatte auch er seinen Übertritt vollzogen. Man hatte ihn gleich in der nächsten Versammlung zum Obmann der neuen Union gewählt, und diese Wahl beruhigte auch Fritz Raup wieder etwas.

      Der Streik hatte sich in Eile auf alle Schächte ausgedehnt. Die Agitatoren der Union sprachen überall an den Straßenecken, in den Kneipen, und in jeder Versammlung: Man sei die alten Hindernisse losgeworden, der Kampf der Arbeiterklasse sei in ein neues Stadium getreten! Und es schien in der Tat eine Wendung eingetreten zu sein. Die Müdigkeit war von den meisten gefallen, auch die Augen der älteren Leute sahen hoffnungsvoller darein, und in die Union strömten immerfort neue Mitglieder. Aber gerade diesen eiligen Anmeldungen mißtrauten Miller und Raup. „Es ist nicht alles von Wert, was in eure Union hineinrennt!“ ernüchterte Raup Franz wieder, wenn er sich auf diesen Mitgliederzuwachs berufen wollte. „So ist jetzt allem feindlichen Volk Tür und Tor geöffnet“, zürnte er, „das wird noch der Tummelplatz aller gelben Geister, und man wird noch einmal froh sein, wenn uns diese Geschichte nicht ganz über den Kopf wächst, daß wir Älteren den jahrzehntelang erprobten Verband nicht beiseite geworfen haben.“

      Die Regierung hatte den Sozialdemokraten Karl Severing als Verhandlungskommissar ins Ruhrgebiet geschickt. Und um die Ruhe und Ordnung zu sichern, rückten Aufgebote der Reichswehr in die Städte.

      Auch in Essen sah man in den nächsten Tagen über’’ all die Söldner mit dem Stahlhelm stehen. Es waren gutgefütterte junge Bauernburschen und Abenteurer aus dem Baltikum und vom Grenzschutz.

      Franz Kreusat ging mit Christian umher, und sie sahen sich die Soldaten an. Die waren sich ihrer Sache nicht sicher und standen unruhig und immer mit der Hand am Karabiner oder an der Handgranate. „Man müßte ihnen die Dinger wegnehmen“, sagte Christian jedesmal in einer stillen Wut. „Das müßte man tun“, sagten andere und standen weiter da, ohne den Wunsch auszuführen. „Man müßte ihnen die Dinger tatsächlich abnehmen.“

      „Verflucht, keiner wagt es!“

      „Niemand hat den Mut!“

      Sie zogen wieder nach Hause, unzufrieden, weil keiner den Mut aufbrachte, sich den Söldnern zu nähern und ihnen die Gewehre abzunehmen. Jeder schien dasselbe zu denken: Stürzt man sich über einen her und nimmt man ihm die Knarre ab, dann knallen gleich die anderen Knarren. Und wenn Franz Kreusat aufrichtig sein wollte, trotz allem Haß und dem Wunsch, sich auf den nächsten der Söldner zu stürzen und ihn zu entwaffnen, er konnte nicht eine Minute lang die heimliche, eisige Angst loswerden, die ihn beim Anblick der drohend vorgehaltenen Gewehrläufe lähmte – ein kleiner Zug mit dem Finger und es war aus mit allen Träumen. Nein, er brachte den Sprung nicht fertig.

      Auch Christian wagte diesen Sprung nicht.

      Sie knirschten und fluchten, alle knirschten und wüteten, aber nicht einer griff zu, nicht eine Hand regte sich. Verflucht! Verflucht! Und früher waren sie auf einen Pfiff in den Tod gerannt – auf einen Wink.

      Sie demonstrierten. Massen, Hunderttausende. Die Söldner standen, bleich und mit merkbarer Angst, aber sie standen. Und die Werk- und Bergleute zogen vorbei, sie schrien und brüllten: „Mörder! Bluthunde!“ Sie schrien und zogen vorbei. Die Söldner sahen grau aus vor Angst, sie hielten den Finger am Abzug. – Die Masse schrie: „Mörder!“ – und zog vorbei. Tausende, Zehntausende schrien vor Wut und Haß, und zogen doch nur wieder vorbei.

      Franz Kreusat ging jedesmal mit neuen Hoffnungen, mit tausend, mit Zehntausenden Hoffnungen mit – und ging geschlagen zurück. Auch Christian sprach kein Wort mehr, wenn sie wieder nach Hause zogen.

      Eines Tages flog eine Handgranate. Keiner hatte nach dem Söldner gegriffen, keiner hatte etwas unternommen, sie hatten rund um den Söldner gestanden und hatten ihn angesehen. Jemand hatte dann gefragt: „Warum stehst du hier? Wär’s nicht besser, du gingst nach Hause? Hierher kommst du, wo wir alle nichts zu fressen haben, wo sich die Menschen schinden! – Warum gehst du nicht zu Krupp oder Stinnes, und warum hältst du nicht diesen deine Knarre auf die Brust?“ Und da warf der Söldner in Todesangst die Handgranate. Blut und Gehirn klebten an der Wand des Hauses. Der Söldner lief, er hatte das Gewehr weggeworfen. – „Laßt mich, ich wollt’ es nicht! Man hat mich hergeschickt ...“ Er heulte und rief: „Ich wollt’ es nicht …“ Er hatte ein Gesicht wie jeder Mensch, wie die Grubenschlepper; man hatte ihn nicht gegriffen, nicht zerrissen, er lief wie wahnsinnig davon. „Ich weiß nicht, man hat mich hergeschickgt!“ – – –

      Keiner griff ihn und schlug ihn tot.

      Den ganzen Tag zogen Tausende an dem Haus vorbei, an dem das Blut schreckte. „Man muß jetzt ein Ende machen!“ knirschten alle, die vorbeigingen.

      Die Söldner waren mit einemmal aus den Straßen verschwunden. Die Regierung hatte sie zurückziehen lassen, besorgt, die Menge könnte die Geduld verlieren. Auch in anderen Städten waren Handgranaten geworfen worden, es hatte Tote gegeben, und die Regierung ließ die Reichswehr wieder abziehen.

      In diesen Tagen war sich Franz Kreusat über eins klar geworden: Du darfst keine Angst haben, wenn solche Söldner wieder einen Lauf gegen deine Brust richten. Du darfst vor der Handgranate keine Angst haben. Du bist früher auf einen Pfiff in den Tod gerannt, auf den Wink eines kleinen Schinders, und wußtest nicht, weshalb du rennst. In diesem Falle hättest du dir selbst, allen anderen einen Wink geben müssen. Einer hätte dem anderen den Wink geben müssen. Einer – wie Lenin! –

      Die Schächte fördern wieder. Die Bergleute fahren nur sechs Stunden an. Ein Sieg; aber die Steiger versuchen jetzt in den sechs Stunden das Soll herauszuhetzen, das die Kumpels bisher in der längeren Schichtzeit herausgeholt hatten.

      Kalles abgehetztes Gesicht – es war der Reviersteiger – tauchte jetzt noch öfters zwischen den Hölzern auf. „Nun habt ihr die Sechsstundenschicht, das heißt aber nicht, daß wir jetzt die Schippe gänzlich auf die Seite legen. Die Wirtschaft braucht Kohle. Auch die Alliierten wollen Kohle, oder sie rücken ein. Wir können uns jetzt nicht einfach hinlegen, fördert also Kohle ...“ Und wieder hören die Kumpels ihn jeden Tag und über all: „Die Wirtschaft geht zugrunde. Schafft Kohle – Kohle muß kommen ... Kohle!“

      Das Gefängnis „Leben“ scheint dunkler, enger zu werden als vor dem November. Franz Kreusat geht mit Therese öfters nach dem Hoffrone-Saal, um zu tanzen. Eine Nacht tobt er durch, dann folgt wieder ein Tag, den er verflucht, denn dieser Tag ist wie alle anderen Tage: Schlepparbeit, Groll der Kumpels, närrische Debatten von Niederlage, bis er aufbrüllt: „Klagt doch nicht, Schwächlinge, verflucht! Wer hat euch denn dieses neue Joch aufgelegt? Habt ihr nicht selber dabei geholfen?“

      Der Himmel bleibt grau. Die Werksirenen heulen wie hungrige Tiger. Die Schachtklöppel dröhnen in seinem Schlaf. Die Rutsche rappelt noch während er liegt in seinen Knochen.

      Schlotternd und zähneklappernd kriechen die Kumpels aus den triefenden Schachtkörben. Das „dicke Hemd“ fehlt, durch die Hosenlöcher bleckt die welke Haut. Sie schreien, um zu schreien, um sich selber wieder zu hören. Alle sind taub von dem Bohrhämmerkrach und dem Rutschengerappel. Es soll Kartoffeln geben. Jeder redet von den Kartoffeln.

      „Ha, Kartoffeln! Das gibt wieder mal Pfannekuchen! Dann wird sich noch ein Schweinchen dazugelegt, das gibt einen Schmaus!“

      „Vielleicht läuft dir ‘ne Katze in den Weg, die sich in das gewünschte Ferkel verwandelt!“

      „Ein leckerer Dachhase ist auch nicht zu verachten. Unsre Alten hatten sie oftmals als Schweinebraten genossen und haben ein Dutzend Athleten wie uns in die Welt gesetzt!“

      „Ho, was unsre Alten konnten, das können wir auch!“

      Sie prahlten und schrien, als wäre jeder ein wohlausgefüttertes Zuchttier: der krumme Kosek, der immer betrunkene Labisch und der langnasige Metze, den der Wind aus den Fetzen bläst. Labisch ist vom Grenzschutz zurück. Er geht jeden Lohntag nach Hoffrönes Kneipe und spielt Siebzehn und Vier, bis er sein Geld völlig verspielt hat. Er redet jetzt, daß er sich zu der neuen „grünen“ Polizei melden wolle; es ist die