Zuerst hatte er versucht, sich einzureden, dass er seine Stieftochter jetzt natürlich anders liebte als zuvor, eben weil sie kein Kind mehr war. Natürlich liebte man eine erwachsene Tochter anders als ein kleines Mädchen, aber er hatte nur versucht, sich selbst etwas vorzumachen. Die Wahrheit war: Er liebte Nina überhaupt nicht mehr wie eine Tochter, sondern wie eine junge, begehrenswerte Frau.
Er hatte lange gebraucht, bis er sich das eingestehen konnte, und jetzt, da er sich selbst nichts mehr vormachte, empfand er seine Gefühle als Unrecht. Auch wenn sie nicht seine leibliche Tochter war, so hatte er sie doch in den Jahren vor Valeries Tod immer nur als Tochter gesehen. Sie war sein Kind. Dieses Kind durfte er nicht so lieben, wie er es jetzt tat. Er durfte Nina nicht begehren. So sah er das, aber er kam gegen seine Gefühle nicht an. Wenn er nur daran dachte, dass sie jemals erfahren könnte, wie es in ihm aussah, wurde ihm übel. Sie würde ihn verachten und wahrscheinlich nie wieder ein Wort mit ihm sprechen.
Deshalb musste er heute dieses schwierige Gespräch mit ihr führen und dabei unbedingt freundlich, aber vor allem bestimmt auftreten. Sie würde seinen Wunsch nicht verstehen und nach den Gründen fragen. Das war sein Schwachpunkt, er wusste es. Die Gründe klangen vorgeschoben – aus einem einfachen Grund: weil sie es waren, denn was wirklich hinter seinem Wunsch steckte, konnte er ihr ja nun einmal nicht sagen.
Er versah das Huhn mit der Füllung, die er zuvor hergestellt hatte, band es zu und bepinselte es mit einer Öl-Kräutermischung, bevor er es in den Ofen schob. Nina würde bald kommen. Eigentlich hätte sie längst zu Hause sein sollen. Wahrscheinlich war sie aufgehalten werden.
Er war dabei, die Suppe zu würzen, als er hörte, wie sie die Wohnungstür öffnete. Er wappnete sich für das, was kommen würde, atmete noch einmal tief durch und wandte sich ihr zu, als sie von der Tür her sagte: »Hallo, Per, tut mir leid, dass es etwas später geworden ist.«
»Nicht so schlimm«, antwortete er, »ich hatte genug zu tun. Du kommst genau zur rechten Zeit. Hoffentlich hast du guten Appetit mitgebracht.«
Sie nickte und trat näher, während sie schnupperte. »Huhn?«, fragte sie.
»Ja, gefülltes Huhn mit Süßkartoffelpüree, davor eine Suppe, die Nachspeise verrate ich noch nicht.«
»Gibt es einen Grund dafür, dass du so aufwändig gekocht hast?«
Er zögerte, aber nur kurz. Sie jetzt anzulügen wäre mit Sicherheit ein Fehler, also sagte er: »Ja, ich muss etwas mit dir besprechen. Aber das heben wir uns für später auf. Zuerst erzähl mir, was du heute erlebt hast. Das Huhn braucht noch eine Dreiviertelstunde, aber mit der Suppe können wir bald anfangen.«
Sie kam seiner Aufforderung nach, alles wirkte ganz normal. Per entspannte sich allmählich. Vielleicht lief der Abend ja besser als befürchtet.
*
Leon Laurin begab sich ins Untergeschoss der Klinik, um seinem Schwiegervater den ersten Besuch an seinem neuen ›Arbeitsplatz‹ abzustatten. Professor Dr. Joachim Kayser, der die Kayser-Klinik seinerzeit gegründet und die Leitung schließlich an Leon übertragen hatte, war vor Wochen in der Klinik aufgetaucht und hatte erklärt, er brauche etwas zu tun. Und er hatte auch schon eine Idee gehabt, was das sein könnte: Er wollte das Archiv mit den Patientenakten auf den neuesten Stand bringen, also digitalisieren.
Leon war angetan gewesen von der Idee, denn bisher hatte sich niemand dieser Arbeit annehmen wollen, weil es immer so viel Wichtigeres zu tun zu geben schien. Und auch ohne solche zusätzlichen Aufgaben waren natürlich alle mehr als ausgelastet.
Daraufhin war unten, in einem recht kleinen Raum neben dem Archiv, Joachim Kaysers Büro eingerichtet worden, mit allem, was er für die Arbeit brauchte, und heute war der Tag, an dem er seine Arbeit aufgenommen hatte.
Er klopfte und trat ein, nachdem jemand von drinnen etwas geantwortet hatte.
»Ach, du bist es«, begrüßte der Professor seinen Schwiegersohn. »Das geht ja hier zu wie im Taubenschlag. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele Leute schon bei mir vorbeigekommen sind, um sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass der ehemalige Klinikchef jetzt tatsächlich im Keller sitzt und eine Arbeit erledigt, die bisher jede Sekretärin abgelehnt hat.«
Er klang bei seinen Worten ziemlich vergnügt, fand Leon. Aber er hatte sich diese Arbeit ja auch selbst ausgesucht.
»Darf ich dir einen Kaffee anbieten? Wie du siehst, hat man mich mit einer ziemlich guten Kaffeemaschine ausgerüstet. Überhaupt kann ich nur sagen, dass meine Ausstattung hier unten großzügiger ausgefallen ist, als ich es erwartet hätte.«
»Für den Klinikgründer war uns kein Aufwand zu groß.« Leon lächelte breit bei diesen Worten. »Ich nehme gern einen Kaffee, zumal diese beiden Sesselchen sehr gemütlich aussehen. Setzt du dich einen Moment zu mir oder hast du zu viel zu tun?«
»Zehn Minuten kann ich erübrigen, aber dann will ich Ruhe zum Arbeiten haben. Ich brauche noch ein Schild ›Bitte nicht stören‹, das ich bei Bedarf an die Tür hängen kann. Sonst bilden sich alle, die gerade nichts zu tun haben, ein, sie könnten mal auf einen Schwatz bei mir hereinschauen, und ich komme mit meiner Arbeit nicht weiter. So habe ich mir das nicht vorgestellt. Niemand soll denken, dass ich nur in die Klinik komme, um die Zeit totzuschlagen.«
»Ich wüsste nicht, wer das denken könnte«, erwiderte Leon. »Sehr gut, dein Kaffee.«
»Ist eine Messerspitze Schokolade drin, das ist das Geheimnis des Erfolgs. Den Tipp hat mir Teresa gegeben. Sie kennt sich eben nicht nur mit Mode aus.«
»Wie weit ist sie mit ihrem neuen Laden?«
Joachim Kayser machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ein Drama ohne Ende. Du weißt ja, dass sie einen schönen Laden gefunden hat, dessen Miete auch einigermaßen erschwinglich ist, aber nun hat sich herausgestellt, dass sämtliche Stromleitungen erneuert werden müssen – und dass in dem Haus noch alte Bleirohre verlegt worden sind. Die sollen jetzt auch noch raus. Das kann sich hinziehen, dabei wollte sie ja bald starten. Jetzt überlegt sie, ob sie von dem Mietvertrag zurücktritt und sich etwas Neues sucht. Aber sonst wäre der Laden perfekt für das, was sie und ihre Freundin vorhaben. Die Größe stimmt, die Lage ist erstklassig, und die Miete, wie gesagt, ist auch in Ordnung. Also, sie überlegt noch, was sie jetzt macht.«
»Das tut mir leid. Ich habe vor ein paar Tagen noch mit ihr telefoniert, da sagte sie nur, dass es ein paar Probleme gibt, aber näher darauf eingegangen ist sie nicht.«
»Du kennst doch Teresa, sie packt lieber an als zu jammern.«
Sie lächelten einander zu. Ja, Leon kannte Teresa, denn sie hatte ihn und seine Schwester zu sich genommen und aufgezogen, als ihre Eltern gestorben waren. Und heute war sie auch noch seine Schwiegermutter, denn vor etlichen Jahren war sie ihrer Jugendliebe wiederbegegnet, dem mittlerweile verwitweten Joachim Kayser. Wenig später hatten die beiden geheiratet. Leon hingegen hatte sich in Joachims Tochter Antonia verliebt …
»Woran denkst du denn gerade, dass du so verträumt lächelst?«, erkundigte sich Joachim.
»An die Zeit, als ich mich in Antonia verliebt habe und als du Teresa wiederbegegnet bist.«
Da lächelte auch der Professor. »Schön war das«, sagte er.
Leon leerte seine Tasse. »Wieso bist du eigentlich noch hier? Es ist schon ziemlich spät, falls du das nicht mitbekommen hast. Wartet Teresa nicht auf dich?«
»Sie ist mit einer Freundin verabredet, und ich habe noch gar nicht richtig angefangen, weil dauernd jemand kam und mir einen Besuch abstatten wollte.«
Leon erhob sich. »Entschuldige, stören wollte ich dich nicht, nur kurz ›hallo‹ sagen.«
»Das