»Hör nicht hin, Rosalie«, sagte Martin heiser.
»Warum nicht? Ich habe vieles gehört in all den Jahren. Ich denke an Vater. Wenn er da war, haben sie sich zusammengenommen. Das werden sie jetzt nicht mehr tun. Ich war ja nur ein ganz einfaches Mädchen.«
»Du bist meine Frau, Rosalie«, sagte Martin. »Du hast mehr Rechte als sie.«
»Die mir Vater einräumte. Er ist tot, Tino.«
»Für uns, in uns wird er weiterleben, dessen sind wir doch sicher und werden es auch nicht vergessen, mein Liebes«, erwiderte Martin.
»Ich werde es nie vergessen«, sagte sie verhalten.
*
»Du solltest dich zusammennehmen, Birgitta«, sagte Henrik vorwurfsvoll. »Es könnte immerhin sein, dass wir in gewisser Hinsicht von Martin und auch von Rosalie abhängig werden.«
»Wie meinst du das?«, fragte sie.
»Nun, Vater könnte doch ein Testament gemacht haben, da er ja drei Enkel hatte.«
Birgitta kniff die Augen zusammen. »Das hat er nicht«, stieß sie hervor.
»Bist du so sicher?«, fragte er erstaunt.
»Ganz sicher. Lass mich jetzt in Ruhe. Ich finde es pietätlos, jetzt schon darüber zu sprechen.«
Der harte Ton irritierte ihn, und es stimmte ihn nachdenklich, dass sie keinerlei Erschütterung zeigte. Ihn ließ der Tod des Vaters nicht unberührt. Ihm war jetzt ganz seltsam zumute. Er konnte sich nicht vorstellen, dass dieser vitale Mann nicht mehr sein sollte. Schlagartig hatte sich dadurch alles für ihn verändert. Er verspürte Gewissensbisse, nun nichts mehr nachholen zu können, was er versäumt oder falsch gemacht hatte.
Im Grunde seines Wesens war er weich und verletzlich. Dies war auch der eigentliche Grund gewesen, sich sobald wieder scheiden zu lassen, denn seine Frau Stella war herrschsüchtig und egoistisch gewesen.
Er hatte sehr an seiner Mutter gehangen und immer im Schatten des älteren Bruders gestanden. Das hatte in ihm gewisse Aggressionen erzeugt, auch im Betrieb hatte er sich nie durchsetzen können. Man hatte ihn nie um seine Meinung gebeten und ihn nicht gefordert, weil man sowieso keine Leistung von ihm erwartete. Und so hatte er sich mehr und mehr treiben lassen.
Für Rosalie empfand er aufrichtige Bewunderung, wenngleich er sich hütete, dies seinen Schwestern gegenüber zu äußern. Christians Tod und dann der Tod der Mutter hatten ihn tiefer getroffen, als er zugab, Birgittas Kälte stieß ihn oftmals ab, dann wieder hatte er Mitgefühl mit ihr, weil sich niemals ein Mann ernsthaft für sie interessiert hatte, oder vielleicht für ihr Vermögen. Henrik wusste das besser als jeder andere, auch dass Birgitta nur aus Stolz betonte, dass Männer ihr völlig gleichgültig wären. Ulla liebte er. Ihr verzieh er alles, weil er wusste, dass ihr exzentrisches Benehmen innerer Zerrissenheit entsprang. Im Grunde waren sie sich sehr ähnlich.
Was würde Ulla sagen, wenn sie nun vom Tod ihres Vaters erfuhr? Henrik wusste, dass sie eine Auseinandersetzung mit ihm gehabt hatte, die sie gleich darauf bereut hatte.
Sie war zu impulsiv, unbeherrscht und eigensinnig. Sie war nicht auf der Party erschienen. Ihm hatte sie gesagt, dass sie noch einmal vernünftig mit Constantin sprechen wolle.
Was würde die Hiobsbotschaft für Ulla bedeuten? Auch sie hatte keine Chance mehr, sich mit dem Vater zu versöhnen.
Henrik lief in seinem Zimmer auf und ab, ohne klare Gedanken fassen zu können. Es war mittlerweile zwanzig Minuten nach sechs Uhr. Sollte er Ulla anrufen? Nein, am Telefon konnte er es ihr nicht sagen. Ob Martin sie schon benachrichtigt hatte? Doch das schien unwahrscheinlich, da er ja sicher angenommen hatte, dass sie auch auf der Party sei.
Henrik duschte und kleidete sich wieder an. Der dunkelgraue Flanellanzug ließ sein Gesicht noch bleicher erscheinen.
Als er draußen auf dem Gang ein Geräusch hörte, ging er hinaus. Er sah Martin in der Halle mit der Haushälterin Elsa. Sie schluchzte hörbar. Als Henrik die Treppe herunterkam, starrte sie ihn fast feindselig an und eilte dann in die Küche.
Die Brüder maßen sich mit einem langen Blick. »Ich werde zu Ulla fahren«, sagte Henrik tonlos. »Sie war nicht auf der Party.«
»Nicht?« Martin sah Henrik konsterniert an.
»Ihr war gestern wieder mal der Gaul durchgegangen, und nun kann sie Vater nicht mehr sagen, dass es ihr leidtut. Du wirst ihr doch nicht die Schuld an Vaters plötzlichem Tod geben?«
»Ich kann mich noch nicht damit abfinden, dass er nicht mehr da ist«, sagte Martin rau.
»Ich auch nicht, oder meinst du, es mache mir nichts aus?«, fragte Henrik leise. »Was kann ich dir abnehmen?«
»Benachrichtige Ulla. Ich fahre jetzt in die Fabrik.«
*
Dr. Norden war pünktlich in der Praxis. Loni sah ihn forschend an.
»Sie haben aber nicht gut geschlafen«, bemerkte sie.
»Fast gar nicht«, erwiderte er. »Herr Deckert ist gestern gestorben.«
»O Gott«, sagte Loni bestürzt. »Das ist schlimm. Er war doch eigentlich nie krank.«
»Herzinfarkt«, erwiderte Dr. Norden kurz, »aber hier muss es jetzt weitergehen.«
Zwei Patienten hatte er abgefertigt, als das Telefon läutete. Wenn Loni zu ihm durchstellte, musste es dringend sein.
Es war Constantin Baltus in höchster Erregung. »Bitte, kommen Sie schnell, meine Frau, wir wissen nicht mehr, was wir tun sollen!«
Ulla Baltus war auch Dr. Nordens Patientin. Häufig litt sie unter Allergien und war sehr anfällig für Erkältungen.
Es passierte öfter, dass Dr. Norden aus der Praxis geholt wurde, glücklicherweise zeigten seine Patienten in der Mehrzahl Verständnis dafür.
Während er unterwegs war, versuchten Constantin und Henrik Ulla zu beruhigen.
Sie hatte noch geschlafen, als Henrik gekommen war. Constantin hatte sein Frühstück schon eingenommen. Er war restlos erschüttert, als Henrik ihm den Grund seines frühen Erscheinens erklärte. Sie waren sich einig, dass sie es Ulla sehr gefühlvoll beibringen mussten. Aber so schonend sie es auch taten, die Reaktion war trotzdem entsetzlich.
»Nein, nein, das ist nicht wahr«, schrie Ulla, »das ist nicht wahr, das darf nicht sein! Dann bin ich schuld! Henrik, sag, dass es nicht wahr ist!«
Begreifen wollte sie es nicht, aber man sagte so etwas doch nicht, wenn es nicht stimmte. Und nun überhäufte sie sich mit Selbstanklagen, redete wirres Zeug und rief immer wieder: »Ich bringe mich um. Ich will nicht mehr leben!«
Es war nicht nur Hysterie, es war maßlose Verzweiflung, die den totalen Nervenzusammenbruch verursachte.
Als Dr. Norden kam, warf sie ihm vor, dass er ihrem Vater nicht geholfen hatte.
Daniel Norden hatte es schon oft genug erlebt, dass Menschen in tiefster Verzweiflung nicht mehr wussten, was sie redeten. Er ließ sich dadurch nicht beirren und zog eine Injektion auf.
Constantin und Henrik mussten Ulla festhalten. Sie schlug um sich und entwickelte Kräfte, die man diesem zierlichen Persönchen nie zugetraut hätte.
Endlich gelang es doch, die feine Nadel einzustechen. Dem Toben folgte bald darauf Apathie.
Constantin hob sie empor und trug sie zu ihrem Bett.
»Die Nachricht vom Tod unseres Vaters hat Ulla furchtbar getroffen«, sagte Henrik gequält. »Aber ich musste es ihr doch sagen.«
Daniel Norden kam es in den Sinn, dass Martin gesagt hatte, sein Vater hätte sich über Ulla aufgeregt.
Nun, er kannte die jüngste Decker-Tochter auch schon Jahre. Er wusste, dass sie mit eifersüchtiger