Für Rosalie war es gewiss nicht Liebe auf den ersten Blick, denn sie war bisher stets nur mit Gleichaltrigen befreundet gewesen, ohne jedoch schon einen festen Freund gehabt zu haben.
Ihr imponierte der »ältere« Mann. Ihre beiden Kolleginnen redeten ihr ein, dass dies die Chance ihres Lebens sei, als sie sich dann in regelmäßigen Abständen mit Martin traf. Sie selbst zögerte. Bei ihr war die Liebe, von der sie geträumt hatte, die die Welt aus den Angeln heben konnte, nicht im Spiel, aber sie schätzte Martin doch so hoch ein, dass sie in ihm nicht nur die Chance ihres Lebens sehen wollte.
Doch sie fühlte sich geborgen in seiner Nähe, noch mehr, als ihre Mutter sich zwei Jahre nach dem Tode des Vaters wieder verheiratete.
Sie nahm Martins Heiratsantrag an, der innerhalb der Familie Deckert einen Sturm verursachte.
Für Martins Vater spielte es zwar keine Rolle, dass Rosalie aus einfachen Verhältnissen stammte, aber sie schien ihm zu jung für seinen ernsten Sohn, vielleicht fürchtete er auch, dass dieser nur wegen des Geldes geheiratet wurde.
Henrik hatte sein Ehefiasko bereits hinter sich, für Birgitta war Rosalie einfach nicht standesgemäß, während Ulla spöttisch meinte, dass sie sich ja künftig das Geld für die Kosmetikerin sparen könne, wenn man eine in der Familie hätte.
Martin hatte eine klare Grenze gezogen. Behutsam und taktvoll hatte er Rosalie erklärt, dass er selbst mit seinen Geschwistern keinen engen Kontakt hätte und sie ganz für sich leben könnten. Ja, Rosalie war so sehr beeindruckt worden von dem Lebensstil der Deckerts, dass sie sich sehr schnell anpasste. Und sehr schnell entstand dann die tiefe Zuneigung zwischen dem Senior und ihr. Vier Jahre nach dem Tod Hermine Deckerts fand die Hochzeit statt. Nach außen hin wahrten die Familienmitglieder das Gesicht. Rosalie war eine bezaubernde Braut, und es sollte sich erweisen, dass sie sehr bald einen unantastbaren Platz in diesem Haus einnahm. Dafür sorgte der Senior mehr noch als Martin, der seine junge Frau anbetete, ohne sich jedoch sicher zu sein, dass sie seine Gefühle im gleichen Maße erwiderte.
Der erste Sohn wurde geboren, und auch er wurde traditionsgemäß Martin genannt. Schon ein Jahr später kam Philipp zur Welt, dann weitere zwei Jahre später die kleine Michaela, die bald zum erklärten Liebling ihres Großvaters werden sollte, was alle verblüffte, denn Martin Deckert hatte für Mädchen nie sonderlich viel übriggehabt.
Auf den Tag genau sechs Jahre waren Martin und Rosalie verheiratet, als der Herr des Hauses die Augen für immer geschlossen hatte.
*
Rosalie lag auf ihrem Bett und dachte über den Verlauf dieses Tages nach. Ihr Herz war voller Trauer, da sie sich an das fröhliche Mittagsmahl erinnerte. Mit ihrem Mann, ihrem Schwiegervater und den drei Kindern hatten sie am Tisch gesessen. Der Opa hatte mit der kleinen Schar gelacht, er hatte Micky, wie Michaela genannt wurde, auf seinem Knie reiten lassen. Ihm war nicht anzumerken gewesen, dass ihm etwas fehlen könnte.
Er hatte Rosalie zärtlich auf die Wange geküsst, als er sich dann für eine kurze Ruhepause in seine Räume zurückzog.
»Es ist schön, dass du da bist, Rosalie«, hatte er gesagt. »Mit dir und den Kindern ist wieder Wärme in dieses Haus gekommen.«
Er machte über die andern, über Henrik, Birgitta und Ulla nie eine abfällige Bemerkung, aber Rosalie wusste längst, wie groß die Enttäuschung in ihm war, dass sie so gar keinen Familiensinn zeigten. Und manchmal gab Rosalie sich daran die Schuld, weil man sie wohl als einen unerwünschten Eindringling betrachtete.
Aber sie war eine selbstbewusste Frau geworden, und das nicht zuletzt durch den Rückhalt, den ihr Schwiegervater ihr gegeben hatte, während ihr Mann immer den Ausgleich mit seinen Geschwistern suchte.
Rosalie fand es ungerecht, dass die drei in keiner Weise am Familienunternehmen interessiert waren, und dass Martin neben seinem Vater alle Verantwortung auf sich nahm, während von den Jüngeren das Geld für Vergnügungen ausgegeben wurde.
Ulla hatte einen vermögenden Mann gefunden. Zu Constantin hatten Martin und Rosalie einen guten Kontakt, sofern Ulla nicht dazwischenfunkte.
In letzter Zeit war das kaum noch der Fall gewesen, Constantin machte es seiner attraktiven Frau nicht mehr in allem so leicht.
Darüber dachte jetzt auch Martin nach, der am Schreibtisch seines Vaters saß und immer noch nicht die gewohnte Fassung zurückgewonnen hatte. Man konnte nicht sagen, dass der Tod seines Vaters ihn noch tiefer traf als Rosalie, er wusste nur ziemlich genau, was ihn nun erwartete.
Sein Vater war der Motor gewesen, und er hatte das Ruder in der Hand gehalten. Er war eine so unglaublich starke Persönlichkeit gewesen, dass jeder in seinem Schatten stehen musste. Zwar hatte sich Martin nicht in diesen Schatten gedrängt sehen müssen, aber nun wurde das Ruder unerwartet früh in seine Hände gelegt, und er wusste auch genau, dass er sich auf seine Geschwister nicht verlassen konnte.
Voller Bitterkeit dachte er an seine Schwester Ulla. Ungewollt war er Zeuge der Auseinandersetzung zwischen ihr und dem Vater geworden.
Hier, an diesem Schreibtisch hatte er gesessen, um sich mit ein paar wichtigen Auslandsaufträgen zu befassen. Durch eine Sprechanlage war er mit den Privaträumen seines Vaters verbunden, damit sie sich stets bei Unklarheiten verständigen konnten, ohne viel hin- und herzulaufen.
Durch diese Sprechanlage hatte er Ullas erregte Stimme vernommen. Sie musste gerade erst gekommen sein, denn er hatte den Motor ihres Sportwagens gehört, der sehr viel Geräusch verursachte. Und aus einer Intuition heraus hatte er die Sprechanlage nicht abgeschaltet.
Ulla hatte gesagt, dass sie jetzt genug hätte von dieser tristen Ehe und sich scheiden lassen wolle.
Das schien innerhalb der Familie zu einer ansteckenden Krankheit zu werden, hatte der Senior darauf noch ziemlich ruhig erwidert. Ob sie denn Henrik alles nachmachen müsse.
»So ein verblendeter Narr wie Martin kann nicht jeder sein«, erwiderte sie. »Aber eines Tages wird Rosalie auch ihre Koffer packen. Eines Tages, wenn sie ihr Schäfchen im Trockenen hat. Genug Verehrer hätte sie ja.«
Da war der alte Herr aufgebraust, hatte sie eine Intrigantin genannt. »Schmarotzer seid ihr«, hatte er ihr vorgeworfen. »Ihr lasst Martin für euch arbeiten und gönnt ihm nicht einmal sein Glück. Und wer Rosalie angreift, bekommt es mit mir zu tun!«
Wenig später war Ulla wieder davongebraust. Doch der Tag, der so schön begonnen hatte, war zerstört. Martin hatte seinem Vater nichts davon gesagt, dass er das Gespräch mitgehört hatte.
Er hatte mit Rosalie und den Kindern einen Spaziergang gemacht, und als sie heimkamen, saß sein Vater an dem Schreibtisch, an dem nun er saß.
Er machte einen völlig ruhigen, gesammelten Eindruck, aber die Worte, die er sagte, versetzten Martin einen Stich.
»Ich denke, es ist doch besser, wenn ich ein Testament mache. Man weiß nie, was kommt. Meine Hoffnung, dass meine Kinder sich eines Tages einig werden würden, wird wohl unerfüllt bleiben, und ich habe drei Enkelkinder, die ich liebe.«
»Musst du heute davon sprechen, Vater?«, fragte Martin, »ausgerechnet heute?«
»Für euch ist es ein schöner Tag, mein Junge. Ich bin jetzt nicht in der Stimmung, mit euch beisammen zu sein. Ihr braucht ja auch mal ab und zu ein paar Stunden für euch. Ich meine, dass ihr etwas zu viel Rücksicht auf den Großpapa nehmt.«
»Du gehörst zu uns, Vater«, erwiderte Martin. »Rosalie ist der gleichen Ansicht.«
»Ja, ich weiß. Ich danke euch. Ihr macht mir das Leben lebenswert, aber dennoch muss man an die Zukunft denken.«
»Ulla war hier«, sagte Martin vorsichtig.
»Ja, sie war hier. Darüber wollen wir jetzt nicht sprechen.