Eine kurze Weile herrschte grauenvolle Stille ... Endlich sagte David mit tiefbewegter Stimme: »Du bist nicht im Finstern, sondern bist blind!« – »Das kann nicht sein,« erwiderte Bakel, indem er sich anstrengte, seiner Fesseln frei zu werden; »Sie haben bloß künstliche Finsternis geschaffen, um mich zu schrecken.« – »Nehmt ihm die Fesseln ab«, befahl Rudolf, »er mag aufstehen und gehen.« – Sein Befehl wurde ausgeführt. – Bakel sprang schnell auf die Beine, machte ein paar Schritte, die Hände vorstreckend, und sank im nächsten Augenblicke, die Arme gen Himmel erhebend, auf den Rollstuhl nieder. – »David, geben Sie ihm die Brieftasche!« – Als auch dieser Befehl ausgeführt worden, fuhr Rudolf fort: »In der Brieftasche findest du Geld genug, um bis zu deinem Lebensende an irgend einem kleinen, einsamen Orte Obdach und Unterkunft zu finden. Du bist jetzt frei. Geh und bereue! Der allgütige Gott ist barmherzig.«
»Blind!« wiederholte Bakel, mechanisch nach der Brieftasche greifend. »Also doch wahr?« – »Du bist frei«, sagte Rudolf, »du hast Geld – also geh!« – »Ich kann doch nicht«, erwiderte Bakel, von Schauder geschüttelt, »wie soll ich gehen? Ich sehe ja nicht mehr.« – »Für deinen Unterhalt ist ja gesorgt. Wende deinen Ueberschuß von Kraft, den du nur brauchtest, Verbrechen zu üben, dazu an, eine Unterkunft zu finden. Für Geld bekommt der Mensch ja alles.« – »O, man wird es mir stehlen«, schrie Bakel. – »Stehlen?« wiederholte Rudolf, »und wieviel hast du gestohlen? Empfinde nun, was die empfanden, denen du ihr Gut und Eigentum stahlest!« – »Um Gottes willen«, bat Bakel flehentlich, »lassen Sie mich von jemand führen. Wie soll ich über die Straße kommen? Bringen Sie mich lieber um!« – »Nein!« rief Rudolf streng, »du sollst bereuen, und die Reue wird nicht ausbleiben.« – »Ich will nicht bereuen, nun und nimmer«, versetzte Bakel trotzig, »aber rächen will ich mich, rächen an allen, die mich geblendet haben!« Und weißer Gischt trat ihm auf die Lippen; die Fäuste ballend, mit den Zähnen knirschend, sprang er vom Stuhle auf. Aber schon beim ersten Schritte stolperte er ... »Es geht nicht«, jammerte er, außer sich vor Wut; »ich kann nicht laufen; wohin soll ich die Füße setzen? Kein Mensch hat Mitleid mit mir.« – »Und mit wem hattest du es?« fragte Rudolf. – Da trat Schuri zu ihm heran und legte ihm die Hand auf die Schulter. – Bakel zuckte zusammen ... »Wer faßt mich an?« rief er; »wer legt die Hand an mich?« – »Ich«, sagte Schuri. – »Wer bist du?« – »Schuri.« – »Willst du mich in eine Falle locken?« – »Ich bin kein schlechter Kerl, das weißt du«, versetzte Schuri, »und werde dein Unglück nicht ausnützen. Komm mit! Wir wollen gehen. Es wird Tag.«
Rudolf konnte nicht länger Zeuge der weiteren Vorgänge sein, sondern begab sich mit dem Negerarzte in ein anderes Zimmer, und auch die beiden Diener verschwanden. Schuri und Bakel blieben zusammen allein. – »Ists wahr, daß in der Brieftasche Geld ist?« fragte Bakel nach einer Weile. – »Ja, ich selbst habe fünftausend Franks hineingelegt. Du sollst dich irgendwo in Pension geben und dein Leben in Ruhe und Reue beschließen. Natürlich kanns nur irgendwo auf dem Lande, bei bescheidenen Bauern, sein; oder soll ich dich zur Wirtin des Weißen Kaninchens führen?« – »Nein. Die mauste mir doch alles und ließe mich dann im Elend sitzen.« – »Oder zu Rotarm?« – »Da wäre ich noch schlechter dran als bei der Wirtin, denn der Kerl vergiftete mich in wenigen Tagen, um sich meines Geldes zu bemächtigen.« – »Wohin aber dann?« – »Ich kanns nicht sagen,« erwiderte Bakel, »Schuri, du warst nie ein Dieb. Komm und steck mir die Brieftasche unter die Jacke, so daß ich sie nicht verlieren kann; daß die Eule sie auch nicht sieht, denn sie würde mich ebenfalls plündern bis aufs Hemd!« – »Die Eule?« wiederholte Schuri, »die liegt im Spital, mit einem Denkzettel von mir, an dem sie zu knabbern haben wird.« – »Schuri! Was aber soll aus mir werden, was soll aus mir werden, nachdem ich geblendet bin? Und wenn ich nun hinter dem schwarzen Schleier, der mir vor die Augen gehängt ist, die Gestalten all derer sehe ..« – Und wieder schauderte es ihn. – »Schuri«, fragte er plötzlich, »was ist aus dem Manne von gestern abend geworden?« – »Er lebt.« – »So!« sagte Bakel dumpf, »also einer weniger! Schade, schade!« – Dann stützte er sich auf Schuris Arm und verließ das Haus in der Allee des Veuves.
Achtes Kapitel. Isle Adam.
Vier Wochen waren verstrichen. In dem Städtchen Isle-Adam, das freundlich am Ufer der Oise, ziemlich mitten im Walde gelegen ist, zerbrachen sich die Leute den Kopf, wer wohl das beste Metzgergeschäft im Orte gekauft habe, das bisher von der verwitweten Frau Dumont geführt worden war. Es mußte ein reicher Mann sein, hatte er doch den Laden vollständig neu restaurieren lassen. Drei Wochen lang waren dort Arbeiter beschäftigt gewesen; quer durch den Laden ging ein messingnes Gitter, den Verkaufsstand vom Publikum scheidend; rechts und links vom Gitter standen große Säulen, die zwei mächtige Stierhäupter trugen, als Stützen für das Gesims, an dem die Firma befestigt wurde, die in großer Goldschrift auf schwarzem Grunde die Zeile zeigte:
Francoeur, Metzgermeister,
Verschleiß von Fleisch- und Wurstwaren.
Zwei Stunden nach Ladeneröffnung fuhr ein zierliches Korbwägelchen, von kräftigem Rappen gezogen, vor. Zwei Männer stiegen aus: Murph, der wieder hergestellt war, aber noch immer kreidebleich aussah, und Schuri, in dem anständigen Anzuge, den er jetzt trug, gegen früher gar nicht wiederzuerkennen. Auch sein Gesicht hatte sich ganz verändert: von der früheren Roheit war keine Spur mehr darauf zu sehen.
Die beiden Männer traten in eine hübsche, mit Nußbaummöbeln ausgestattete Stube, hinter dem Laden gelegen, deren Fenster auf den Hof hinaus gingen. Murph nahm eine Flasche aus dem Schranke und sagte: »Heute morgen ists frisch, Schuri, vielleicht ein Schnäpschen gefällig?« – »Mit Verlaub, Herr Murph, ich werde keinen Schnaps trinken. Mich wärmt die Freude über diese glückliche Wandlung meines Schicksals. Gestern haben Sie mich vom Floßplatze geholt, wo ich ja derb schuften mußte, aber doch den Tagelohn redlich verdiente, den ich zu meinem Lebensunterhalte brauchte. Und dann holten Sie mich und gingen mit mir in einen Kleiderladen, kauften mir die schönen Sachen und bestellten mich vor das Tor Saint-Denis. Dort hielten Sie mit Ihrem Wagen, und nun sind wir hier!« sagte Schuri, in die Hände klatschend; »aber hier wohnt doch ein Metzger? Draußen hackt doch ein Geselle Fleisch? Und was für schönes Fleisch liegt im Schaufenster und hängt im Laden? Wie erinnert mich das alles an meine Jugend! Ach, hätte ich werden können, wonach mir das Herz stand, dann wäre ich nichts anderes im Leben geworden als Schlächter.«
Murph führte ihn durch den Laden in den Stall, in welchem drei stattliche Ochsen und etwa zwei Dutzend Schafe standen. Dann in den Pferdestall, in den Schuppen, ins Schlachthaus, auf den Boden, kurz überall im Hause umher. Ueberall herrschte die peinlichste Sauberkeit, überall leuchtete der Wohlstand in die Augen; Murph fragte Schuri, ob er auch die oberen Stockwerke besichtigen wolle. – »Noch weiß ich nicht, was ich hier soll«, erwiderte Schuri, indem er sich scheu umsah; »soll ich hier als Gesell eintreten? Wenn dies der Fall wäre, Herr Murph«, setzte er leise hinzu, »dann wäre es doch notwendig, dem Meister ...« – »Nun, was meinen Sie?« fragte Murph, als Schuri stockte. – »Dann wäre es doch nötig«, wiederholte Schuri, »dem Meister zu sagen, daß ...« – »Nun, was denn?« fragte Murph wieder, »der Mann, der Ihnen Arbeit geben will, ist gerade oben.« – »Nun, ich müßte ihm doch sagen – denn wenn es nachher herauskäme, stünde ich doch als Lügner da – daß ich im Bagno – gesessen habe!« – »Sie haben recht«, erwiderte Murph, »nun, so kommen Sie. Ich bin mit dem Manne bekannt und werde für Sie bei ihm ein gutes Wort einlegen.«
Sie gingen zusammen die Treppe hinauf. Eine Tür öffnete sich. Sie standen vor Rudolf ... »Murph, mein ewig getreuer Freund, laß uns ein paar Augenblicke allein!« – Dann wandte sich Rudolf an Schuri: »Nicht wahr, Murph hat dich überall im Hause herumgeführt?« – »Jawohl, Herr Rudolf,