Das Ende des Laufstegs. Martin Willi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Willi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783905896275
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als wäre er aus einer anderen Welt zu ihnen gekommen. Nach einigen Caipirinhas sagte er dann: «Kommt Mädels, ich hab’ da was für euch, das macht euch so richtig schön happy, wollt ihr das ausprobieren? Wollen wir zusammen eine Reise ins unendliche und vollkommene Glück unternehmen?» Bevor sie richtig denken konnten, waren die vier jungen Frauen mit Pedro auch schon in einem Hinterhof angelangt. Als sich Anita am nächsten Tag versuchte zu erinnern, schien es ihr schwer die Zusammenhänge klar zu deuten. Es fiel ihr wieder ein, dass Pedro sagte: «Lasst uns ein Spiel machen. Wer verliert, der bekommt von mir als Trostpreis eine Spritze voller Glückseligkeit geschenkt.»

      Eine Spritze, ja eine Spritze voller Glückseligkeit sagte er, er meinte natürlich eine Dosis Heroin. Sie wusste nicht mehr was geschah, sie spielten irgendein Kartenspiel, das Pedro wie von Zauberhand immer wieder gewann und die vier jungen Frauen bekamen in ihrem Alkoholrausch allesamt ihre erste Heroinspritze verpasst. Von der ersten Spritze bis zur Abhängigkeit war es dann nur ein kleiner Schritt, ein Katzensprung, wie man sagt.

      Nachdem Petra ihre Drogenabhängigkeit entdeckt hatte, verbrachte Anita nur noch selten ihre Wochenenden in Baden. Sie entfremdete sich immer mehr, was ihren Eltern aber gar nicht auffiel, da sie ja so sehr mit sich selbst beschäftigt waren. Petra jedoch machte sich immer mehr Sorgen und so suchte sie ihre Schwester eines Tages in Bern auf, um ein ernstes Wort mit ihr zu reden. Ein Wort von Schwester zu Schwester. Sie musste mehrmals klingeln, bis Anita endlich die Türe öffnete. «Mensch Petra, was machst du denn hier? Ist etwas passiert?»

      «Ich muss mit dir sprechen, unbedingt, ich mach mir ernsthafte Sorgen um dich.» Petra schritt in die Wohnung, die ihr wie eine Art moderne Müllhalde vorkam. «Sag mal, wie sieht es denn hier aus?»

      «Warum?»

      «Warum? Sieh dich um! Wann habt ihr denn das letzte Mal aufgeräumt?»

      «Wer aufräumt, der ist nur zu faul um zu suchen», erwiderte ihre Schwester und ging ihr voraus in ihr Zimmer, in dem ein wahres Chaos herrschte. Petra musste sich mit ihren Füssen buchstäblich einen Weg durchs Zimmer freibahnen. Sie hielt den Atem an und öffnete schnell das Fenster. «Sag mal, lüftest du eigentlich nie?»

      «Weshalb denn, ich hab’ genügend Luft. Bist du zu mir gekommen, um mich zu beatmen oder was?»

      Petra blieb zunächst am Fenster stehen, damit es ihr durch den abgestandenen Zimmergeruch nicht doch noch übel wurde. Sie blickte ihre Schwester besorgt an, die sich inzwischen auf ihrem Bett hingelegt hatte. Sie wusste nicht mehr, wie lange sie sich die ausgemergelte Anita angesehen hatte, vielleicht zehn Sekunden, vielleicht fünf Minuten. «Was willst du von mir?», brach Anita das Schweigen.

      «Du hast uns schon lange nicht mehr besucht.»

      «Muss ich das denn?»

      «Müssen? Nein.»

      «Na eben.»

      Pause, eine sehr beklemmende Pause machte sich breit. Wer würde wohl als Erste den Bann brechen?

      Petra setzte sich zu Anita ans Bett, das wohl schon seit Wochen keine frisch gewaschene Bettwäsche mehr gesehen hatte. Sie musste ihre aufkommenden Tränen unterdrücken, was ihr nur schwerlich gelang. «Ich weiss warum du nicht mehr kommst. Du kannst mir nichts vormachen oder mich für dumm verkaufen, du nimmst Drogen. Das ist ein ganz grosser Blödsinn, was du da machst. Eine richtige Scheisse ist das!»

      «Oh, meine kleine Schwester macht mir Vorwürfe, sie will mir sagen, wie ich zu leben habe, wie ich mich verhalten muss, was ich darf und was nicht.»

      «Mach dich nicht lächerlich, es ist viel zu ernst.»

      Anita setzte sich auf und blickte Petra mit traurigen schmerzerfüllten Augen an: «Wissen es die Eltern?»

      «Nein, ich habe ihnen nichts gesagt.» Wieder machte sich eine beängstigend lange Pause zwischen den beiden Schwestern breit. Anita sah auf den Boden und sagte, oder genauer, sie flüsterte kaum hörbar: «Danke.»

      «Hier ist dein Kaffee, Petra.» Jäh wurde die Kommissarin aus ihrer tiefen Gedankenwelt herausgerissen, als Erwin mit dem bestellten, wohlriechenden Kaffee ins Büro trat. Der Duft des Fair-Trade-Kaf-fees aus Bolivien erfüllte den Raum. «Was ist los, störe ich etwa?»

      «Ach nein, ich war mit meinen Gedanken nur etwas abgeschweift.» Sie nahm die Tasse von Erwin und trank genussvoll den Kaffee, der ihr wie ein kleines Wunder vorkam. Eine grossartige Erfindung so ein Kaffee, wie würde ich wohl ohne Kaffee den Alltag überleben? Wahrscheinlich überhaupt nicht. Ein dreifaches Hoch auf die Personen, die dieses Wundergetränk entdeckt haben. «Das tut gut. Sag mal Erwin, hast du schon mal irgendwas von einem Mord gehört, bei dem eine weisse Rose mit im Spiel war?»

      Erwin dachte kurz nach, doch er schüttelte sofort entschieden den Kopf. «Nein, nicht dass ich wüsste, wirklich nicht. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, was die weisse Rose bedeutet, welche Rolle sie spielt.»

      Petra setzte sich an ihren Computer. «Wollen wir doch mal schauen, ob ich irgendwas rausfinde. Vielleicht gab es ja früher schon mal einen Mordfall mit einer weissen Rose. Vielleicht irgendwo an einem anderen Ort in der Schweiz oder sogar im Ausland. Und du fragst nochmal nach, ob mittlerweile eine Vermisstenanzeige eingegangen ist. Irgendwer muss die junge Frau doch vermissen.» Wortlos zustimmend verliess Erwin das Büro der Kriminalkommissarin.

      Petra betätigte sich indes eifrig an ihrem Computer. Wollen wir doch mal schauen, ob wir zwei das Geheimnis der weissen Rose knacken können. Komm schon Harry. Harry, ja Harry, so nannte sie ihren Computer.

      Plötzlich fuhr ein schrecklicher Gedanke in ihre rasenden Gehirnzellen, ein Gedanke, der beinahe erstarren liess: Weisse Rosen, ja weisse Rosen, waren da nicht weisse Rosen auf dem Grab bei der Beerdigung meiner Schwester Anita? Weisse Rosen von einem unbekannten Verehrer, wie ich und meine Eltern annahmen. Doch steckte etwas ganz anderes hinter diesen weissen Rosen?

      5 (Dienstag 23. April 2013)

      «Sachdienliche Hinweise sind an die Kantonspolizei Aargau in Aarau oder an jede andere Dienststelle zu richten.»

      Jolanda Wyss stand der bare Schrecken ins Gesicht geschrieben. Das Stückchen Schokolade, das sie sich soeben gönnen wollte, blieb ihr buchstäblich im Halse stecken. Ihr Atem stockte und das Herz pochte wie verrückt unter ihrem Busen. Wie erstarrt und mit der Gesichtsfarbe eines Gespenstes blickte sie auf den Bildschirm ihres Fernsehers. «Mit einer weissen Rose auf ihrem Hinterteil aufgefunden.» So lautete die aktuelle Polizeimeldung. «Sie trug eine Halskette mit einem Schutzengel, auf dem der Buchstabe S eingraviert war.» Na also, alles klar, das ist Sabrina! Wie in Trance stellte die junge mollige Frau das Fernsehgerät ab, blieb minutenlang sitzen, bevor sie dann endlich langsam aufstehen konnte. Sie trug ein weisses T-Shirt und schwarze eng anliegende Leggings. Eine Bekleidung, die ihrer Figur so gar nicht entgegenkam, ganz im Gegenteil. Doch Schwarz und Weiss, das waren Jolandas Lieblingsfarben, auch wenn dies ganz genau genommen eigentlich gar keine Farben sind. Dies sagte zumindest Newtons physikalische Lehre, obwohl es zahlreiche kluge Menschen gab, die hier ganz anderer Meinung waren, so auch Jolanda – oder Goethe. Für sie galten schwarz und weiss genauso zu den Farben wie zum Beispiel rot, blau, gelb und grün. Jolanda trug gerne Leggings, zumindest Zuhause, auch wenn sie darin eher noch molliger aussah, als sie in Wirklichkeit war. «Zieh dich doch nicht immer so unvorteilhaft an!», sagte ihr Sabrina noch vor wenigen Wochen vorwurfsvoll und nun war sie tot, einfach tot!

      Die weisse Rose. Sabrina hatte ihr von diesen weissen Rosen erzählt. Sie öffnete die Balkontüre ihrer Dreieinhalbzimmerwohnung, die sich in Holziken in einem Sechsfamilienhaus befand. Es war keine luxuriöse Wohnung, nein, das bestimmt nicht, dazu fehlte ihr auch das Geld. Nicht einmal einen Geschirrspüler gab es hier und die Waschmaschine musste sie sich mit den anderen Mietern teilen. Aber Jolanda verstand es, ihre Wohnung gemütlich und mit viel Liebe zum Detail einzurichten. Frische Luft, Jolanda brauchte jetzt frische Luft, viel frische klare Luft, unbedingt und sehr schnell.

      Wie sagte Sabrina noch zu ihr im letzten Sommer am Hallwilersee? «Du wirst dich noch wundern über mich. Ich mach noch ganz grosse Schlagzeilen!